Das Wochenende birgt trübe Aussichten. Alles ist Grau in Grau und kaum ein Lüftchen Wind weht. Dennoch muss ich die Gelegenheit nutzen, um noch mal los zu kommen. Viel Zeit bleibt nicht mehr, bevor die Häfen ihre Pforten schließen und ich möchte mich einfach noch einmal diesem Gefühl hingeben, da draußen sein zu können. Die innere Freiheit, das Sein, das Ankommen. Nicht nur im Gasthafen, auch bei mir. Ich möchte vor dem langen Winter noch einmal für kurze Zeit alles von mir abwerfen und mich selbst wahrnehmen, bevor es mich dann wieder ans Land bindet und mir lediglich kurze Stundentörns zu den Ochseninseln und zurück möglich sind.
Das Wasser auf der Flensburger Förde liegt glatt vor mir und mal wieder zerrt es an mir. Ich habe doch ein Segelboot und keine Motoryacht. Ich sollte segeln und mich mit Hilfe des Windes fortbewegen. Sollte mich langsam treiben lassen und die Zeit genießen, die ich allein auf meinem Schiff verbringen kann. Das ist es doch schließlich, was ich möchte. Nur mein Boot und ich. Doch ich habe nicht allzu viel Zeit und der Wunsch es an diesem Wochenende doch noch ein mal in die Außenförde zu schaffen ist groß.
Auf halbem Weg setze ich dann doch die Segel und kreuze langsam in Richtung des dänischen Ufers. Es zieht sich entsetzlich und die Segel schlackern nur müde vor sich hin. Mit unter einem Knoten Fahrt im Boot würde ich mein Tagesziel so erst in über sechs Stunden erreichen. Dann wird die sich hinter den Wolken versteckte Sonne längst untergegangen sein und die Nacht schon einleuten, bevor ich den nur zehn Meilen entfernten Hafen von Marina Minde erreiche.
So nehme ich die Segel dann doch wieder runter und fahre unter Maschine weiter und eine Stunde später in den Hafen hinein. Es ist still. Kaum ein Mensch ist noch da und die wenigen, die vereinzelt auf den Booten zu gange sind, räumen ihre Schiffe leer, schlagen die Segel ab oder sind gerade dabei den Mast zu legen.
Der Steg ist verdammt rutschig und wären die Plätze in der Hafeneinfahrt frei gewesen, ich hätte mein Boot dort festgemacht. Doch ich möchte meine Ruhe und zwischen zwei Charterschiffen, die ihren späten Urlaub mit mehreren Mann an Bord verbringen, möchte ich partout nicht liegen. Ich brauche die Stille und die herbstliche Einsamkeit und entscheide mich deshalb für den feuchten und rutschigen Holzsteg am anderen Ende der Marina. Ganz ungefährlich ist das nicht. Nicht allein. Und es macht durchaus Sinn, die Häfen in den Wintermonaten zu schließen. Zu wenig Betrieb und zu viel Aufwand lohnen sich für die Hafenbetreiber einfach nicht und so birgt bereits das Anlegen im Gasthafen am Ende der Saison ein gewisses Risiko.
Es ist früh dunkel. Der Abend ist mild und ich schlendere über die Stege. Es ist schön so allein, wenngleich ein leichter Hauch von Einsamkeit mich nun doch überkommt und sich in meine Gemütsverfassung schleicht. Das Teilen fehlt mir und ich versuche schnell mich von diesem Gedanken abzulenken. Ich blicke zu Boden. Leer gefressene Krebspanzer und ihre dazugehörigen abgetrennten Gliedmaßen, ausgehöhlte Muschelschalen und jede Menge Möwenscheiße liegen überall verteilt und zeigen deutlich, dass auch in den letzten Tagen hier schon nicht mehr viel los war.
Überall im Hafen ist jetzt diese besondere Stille eingekehrt. Kein geschäftiges Treiben auf den Booten mehr. Kein Grillen an den bereit gestellten Bänken. Kein Kindergeschrei. Kein Rennen auf den Stegen. Kein klirrenes Anstoßen mit Bier und Sekt im Cockpit. Keine SUPs, keine Schwimmer im Hafenbecken. Kein Lachen, kein Reden, kein Tuscheln. Ich höre einfach nichts und lausche in die Stille. Es ist verdammt schön und irgendwie gefällt es mir fast mehr, wie die lauten Hafentage und die manchmal stressigen Törns im Sommer, bei denen man nie sicher sein kann, noch einen Platz im Hafen ergattert zu bekommen.
Der eigene Biorhythmus rückt in den Fokus. Ich muss nicht lange wach bleiben, um auf die untergehende Sonne und den farbenprächtigen Himmel zu warten, denn auch wenn sie heute jenseits der Wolken ihre Bahn zog, so ist sie doch auch dort schon längst verschwunden und hat den funkelnden Sternen, die nun sogar vereinzelt durch das Grau am Firmament auftauchen, Platz geschaffen. Ein kurzer Moment noch, dann werde auch ich mich unter Deck zurück ziehen und den Abend früh ausklingen lassen.
Der nächste Morgen beginnt ebenfalls trüb und leichte Nebelschleier bedecken die Sicht im Hafen. Ich warte noch einige Zeit und spaziere erneut über die Stege, bevor ich den Motor starte und die Leinen loswerfe. Ich möchte letzte Erinnerungen schaffen und sie einschließen in meinem Herzen. Ich möchte ein letztes Mal in diesem Jahr die Atmosphäre hier einsaugen und mich bei mir selbst bedanken. Für die schöne Zeit, die ich mir auf meinem kleinen Boot schenke, für die kleinen Abenteuer, die Erfahrungen und die traumhaften Eindrücke. Für die Bilder, Geräusche und Stimmungen auf See. Und dafür, dass ich den Mut habe, mich immer wieder auf diesen Weg zu begeben.
Gegen Mittag verlasse ich Marina Minde und blicke mich hier ein letztes Mal in diesem Jahr um. Viele Häfen in Dänemark tragen im Namen das Wort Minde und lange Zeit habe ich mich gefragt, was dieses Wort wohl bedeutet. Doch erst jetzt, im Rahmen eines dänischen Sprachkurses, bin ich das erste Mal auf die Idee gekommen, dieses Wort zu übersetzen. Minde bedeutet Erinnerung, sich erinnern. Und genau das tue ich. Denn Marina Minde war der erste Hafen, den ich mit meinen Kindern damals angelaufen bin. Mit riesigem Hafenkino und einem wahnsinnigen Stolz in der Brust es geschafft zu haben. So viel Neues erreicht und so vieles Altes dabei hinter mir gelassen zu haben. Ja. Marina Minde. Der Hafen der Erinnerungen.
Wieder herrscht Flaute, wieder liegt das Wasser der Förde spiegelglatt vor mir. Wieder lasse ich den Motor knattern und habe dieses unwohle Gefühl,was mir ins Gewissen redet. Klima. Umwelt. Recourcenabbau. Ich beginne mich innerlich zu rechtfertigen. Mein Motor verbraucht doch nicht so viel, denke ich still bei mir. Bei Marschfahrt nur knapp über einen Liter in der Stunde. Bei 10 Stunden mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa fünf Knoten sind das rund zehn Liter und auf circa 100 Kilometer gerechnet wären es dann um die 12 Liter. Ein Auto verbraucht da deutlich weniger. Doch das Auto ansich ist wohl auch weit öfter und auf weit längeren Strecken unterwegs und verbraucht am Ende auf Zeit, Distanz und Häufigkeit gesehen eben doch viel mehr wie mein kleines Boot.
Ich könnte mich jetzt verrückt machen. Denke erneut an die Umwelt, das Klima und den Recourcenabbau. Aber ich kann mein kleines Leben auch einfach leben und das Wenige was ich habe auskosten und genießen. Ich kann ein paar Stunden abtauchen aus dem öden Alltag. Kann mich selbst wahrnehmen und dem Hamsterrad entfliehen. Kann sein. Kann leben. Ich denke nicht, dass die Erde sich weniger dreht, sich in tausend Teile zerteilt oder von einer Sintflut überzogen wird, weil ich meinen Motor auf zehn Meilen Flaute laufen lasse. Nein, ich habe viel zu oft die Schuld für alles Mögliche bei mir gesucht und mich schlecht gefühlt für Dinge, die nicht in meinen Zuständigkeitsbereich gehören. Nein. Ich kann die Welt nicht retten, indem ich hier und heute verzichte. Ich leiste anderweitig meinen Beitrag, doch hier und jetzt auf See möchte ich gerade nichts einsparen und denke in der Tat an mich und dränge mein Gewissen bewusst nach hinten.
Ich genieße die für diese Jahreszeit viel zu warme Oktobersomme und krame aus dem Schrank im Bug eine kurze Hose hervor, während Heinrich, mein Autopilot, den Kurs hält. Es ist Wahnsinn, um diese Jahreszeit so einen warmen Törn zu genießen. Und trotz aller prognostizierten Szenarien über die düstere Zukunft unseres Planeten erfreue ich mich hier und heute an der Wärme, die mich umgibt.
Auch auf der Außenförde ist kaum etwas los. Wo sonst sich weiße Segel präsentieren und bunte Leichtwindtücher in grellen Farben leuchten, ist nichts als Wasser. Blautöne in unterschiedlichen Varianten und ein Bild, das schöner ist, wie das andere. Es mag vielleicht nicht unbedingt viel mit eigentlichem Segeln zu tun haben, doch ich mag die Atmosphäre der Flaute. Ich mag die Mystik, die der Anblick mit sich bringt. Ich mag die Stimmung, wenn die Stille mich umhüllt und ich mag diese Farben. Ich kann mich nicht satt sehen an ihnen und bin einfach froh hier zu sein zu können. In diesem Moment bin ich glücklich, denn in diesem Moment bin ich.
Ein milchiger Schleier legt sich nun über das Land. Der Nebel von heute morgen scheint sich noch immer um zu treiben und verleiht der herbstlichen Landschaft um mich herum einen besonderen Touch. Wie so oft halte ich mit der Kamera fest, was meine Augen sehen, um mich später zu erinnern, an diesen Anblick, diese Farben und dieses Leuchten. Innen wie außen.
Sønderborg Marina. Auch hier wieder ein Hafen mit vielen Erinnerungen. In diesem Jahr war ich noch nicht hier. Der Hafen gehört schon lange aus persönlichen Gründen nicht mehr zu meinem Favoriten, doch jetzt zum Saisonabschluss zieht es mich irgendwie doch noch mal her. Damals, vor ein paar Jahren, war es der große Spielplatz für die Kinder und das Treffen mit Freunden, was mich her zog und einige schöne Stunden mit netten Gesprächen und gemeinsamen Mahlzeiten mit sich brachte. Heute wäre es der Wlan Empfang für meine Kinder, wenn sie dabei wären und für mich ist es gerade ein Revue passieren. Ein Zurückgehen, Reflektieren und Verstehen längst vergessener, aber auch verdrängter Momente.
Ich habe vieles falsch gemacht in den letzten Jahren. War wohl oft zu egoistisch in meinem schon fast schmerzlichen Drang nach lang ersehnter Selbstverwirklichung und hatte keinen Weitblick für das, was auf mein Handeln würde folgen können. Ich war mit mir und meiner persönlichen Geschichte so sehr beschäftigt und habe dabei mir nahe stehende Menschen übersehen und sie nachhaltig verletzt. Ich habe Fehler gemacht, unbewusst und unüberlegt gehandelt und nichts davon kann ich wieder gut machen. Das Akzeptieren und Verzeihen meiner eigenen Fehler fällt mir gerade nicht leicht und noch immer hinterlässt die Marina ein unwohles Gefühl in mir.
Der Abend ist noch jung, doch die Nacht bricht früh herein. Es ist still und dunkel im Hafen. Auch hier ertönen keine tuschelnden Stimmen mehr und keine schnellen Schritte tappsen über die Stege. Alles ist ruhig draußen und nur zarte Regentropfen klopfen jetzt über mir aufs Deck, während ich es mir in meinem kleinen Salon mit zwei Wolldecken gemütlich mache. So mag ich es. Einfach. Bescheiden. Reduziert auf das Nötigste. Dunkel und gemütlich und mit der flüsternden Geräuschkulisse, bestehend aus leichtem Regen, der aufs Deck tropft, patschender See, die an den Schiffsrumpf schwabbt und gurgelnder Luftbläschen, die sich vom Meeresgrund durchs Wasser nach oben schlängeln. Stundenlang könnte ich diesem einzigartigen und dezentem Konzert lauschen und dabei alle quälenden Gedanken aus meinem Kopf schieben. Kein Stress. Kein Muss. Keine Verantwortung. Einfach nur Ruhe und Sein. Ein Besinnen auf mein Inneres.
Der nächste Morgen beginnt zunächst vielversprechend und ich gehe ein paar Kilometer an der Küste spazieren. Um diese Zeit ist wenig los und ich mag diese morgendlichen Spaziergänge im Herbst. Nur der ein oder andere Jogger ist schon unterwegs und hier und da wird ein Hund Gassi geführt. Die Sonne versucht sich durch das noch immer währende Grau am Himmel zu schieben, doch so richtig gelingen will ihr das noch nicht. Dennoch bin ich voller Hoffnung, denn der Wind soll heute laut Vorhersage gemütlich bis angenehm werden. Ich habe meine eigene Beaufort Skala, deren Windstärke ich in eine Art subjektive Wahrnehmung einteile. Nach „annehmen“ kommen „macht Spaß“ und „macht richtig Spaß“ und dann folgen „geht gerade noch“ und „muss nicht unbedingt sein“, bis hin zu „ich möchte das nicht“.
Motiviert esse eines der übriggebliebenen Stücke meiner kalten Funghipizza vom Vorabend zum Frühstück und freue mich auf den heutigen Tag. Endlich segeln. Doch wie ich raus blicke bleibt mir beinahe der Bissen im Halse stecken. Das kann doch jetzt nicht wahr sein. Ich sehe kaum noch etwas. Wo eben noch die Sønderborger Bugt lag, ist nun dichter Nebel. Die Hafenmole verschwindet, taucht kurz wieder als dunkler Schatten auf und verschwindet erneut. Das kann jetzt wirklich nicht wahr sein. Nebel. Nebel wohin ich auch Blicke. Keine Hafenausfahrt ist mehr zu sehen und die vereinzelten Masten der Boote, die am Nachbarsteg starten, um zum Mastenkram auf der anderen Seite der Marina zu tuckern, sind nur noch schwer und eher am lauten Rattern der Motoren ihrer Schiffe auszumachen.
Rund zwanzig Meilen habe ich heute vor mir. Eine Entfernung, die sich für mein Befinden zeitlich eher an der unteren Grenze bewegt. Unter Maschine wären das vier Stunden, doch da ich heute definitiv beabsichtige mein Boot nach Verlassen des Hafens ausschließen unter Segeln voran zu bringen und der Wind eben nicht auf „richtig spaßig“ auffrischen soll, werden aus den errechneten vier Stunden mit Sicherheit eher fünf bis sechs. Plötzlich beginnt die Zeit erneut zu drängen, denn irgendwann muss ich mich meiner Verantwortung zu Hause wieder stellen. Daran denken mag ich noch nicht wirklich, doch im Hinterkopf macht sich bereits ein kleines Druckgefühl bemerkbar.
Erst gegen Mittag löst sich der Nebel endlich ein wenig auf und ich sehe zu, dass ich die Marina nun zügig verlasse. Endlich. Endlich segelt mein Boot leise dahin und für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen und genieße dieses Gefühl. Ich atme. Ich atme bewusst und nehme dabei dieses wohlige Gefühl mit jeden Atemzug tief in mir auf. Mein Herz klopft und meine Mundwinkel zeigen ein fröhliches Lächeln. Glück und Freude machen sich in mir breit. Dieses Gefühl, was ich mir auf Dauer wünsche. Dieses Gefühl, was nie mehr von mir gehen soll.
Ein paar Meilen segelt Findus unter Kontrolle von Heinrich gemächlich vor sich hin, während ich mich einfach nur zufrieden zurücklehne und alles wirken lasse. Ich spüre, wie all der Ballast, der mich an Land viel zu oft begleitet und mit seiner Schwere nicht selten beinahe zu erdrücken droht, von mir weicht und sich eine entspannte und selbstbestimmte Leichtigkeit einstellt. Hier draußen weicht alles Fremde von mir und ich finde nicht nur Ruhe und Entspannung, sondern immer wieder auch meine innere Freiheit.
Nur wenige Boote sind überhaupt unterweg und das ist ja auch das Schöne in der späten Saison. Der Blick wandert weiter und wird nicht gebremst durch zumeist weiße Segel. Kein Acht geben auf Vorfahrtsregeln und kein Ausweichen. Im Herbst fühlt sich selbst die Förde wie die offene Ostsee an. Eine Illusion von Lille oder Store Bælt mit getäuschter Weite und ohne Blockaden im Kopf. Die Kraft der Sonne tut ihr übriges und suggeriert mir noch einmal einen feuchtfrischen Sommertag auf See.
Nach vier Meilen ändert sich das idyllische Bild und ein dunkles Grau rollt sich von Land heran. Doch nicht der Himmel ist bedeckt. Nein. Es ist der dichte Nebel, der sich erneut wie ein schweigendes Ungeheuer anschleicht und alles unter sich bedeckt. Das Windrad am Ufer von Kragesand ist nur knapp eine halbe Meile entfernt und binnen Sekunden vom Nebel verschluckt. Auch das Boot nahe der Küste verschwindet vor meinen Augen. Es scheint sich aufzulösen, durchsichtig zu werden, bis auch Rumpf und Segel innerhalb von Sekunden nicht mehr zu erkennen sind. Wahnsinn.
Gleich wird er auch mich verschluckt haben und mein Boot und ich werden eingehüllt in dichten Schwaden für niemanden mehr erkennbar sein. Ich lege meine messinggefertigte Tröte bereit. Sicher ist sicher. Bei schlechter Sicht Ausguck gehen und Signal geben, das weiß ich noch. Das habe ich vor Jahren mal im SBF See Kurs gelernt. Nur was um alles in der Welt für ein Signal war das noch gleich? Alle paar Minuten, das ist klar. Aber nur einer? Oder war das eine Kombi? Einmal kurz ist Achtung. Geht im Zweifel immer, auch wenn ich weiß, dass er hier nicht richtig wäre. Einmal lang und dann kurz? Oder kurz, lang? Und welcher war für Maschinenfahrzeuge mit und ohne Fahrt durchs Wasser? Und welcher für Segler? Gab es da Unterschiede? Was vor Jahren einmal in der Theorie durch schlichtes auswendig lernen gesessen hat, gerät in Vergessenheit, wenn es in der Praxis nicht benötigt wird.
Nun hat er mich. Ich bin eingeschossen in seinen Fängen und instinktiv kneife ich die Augen zusammen, um so konzentrierter sehen zu können. Ausguck gehen. Immer wieder hallt es in meinem Kopf. Ich bin unter Segeln unterwegs. Weiße Segel. Weiße Segel in milchigem Dunst. Dunkel könnte man jetzt besser erkennen. Doch schwarze Segel finde ich persönlich nicht schön. Das dunkle Rot der Traditionssegler macht jetzt Sinn, doch es gehört auf alte, hölzerne Schiffe und nicht auf eine kleine GFK Yacht. Eben noch lag die Förde leer vor mir. So schnell kann mir kein Boot entgegen kommen. Der Segler querab auf höhe Kragesand lag auf ähnlichem Kurs, war etwas langsamer und hinter mir kam keiner mehr. Auch Motorengeräusche sind keine zu hören. Freie Fahrt also. Herbstsegeln in einer neuen Quintessenz.
Der Wind frischt kurz etwas auf und bläst für kurze Zeit zwischen angenehm und macht Spaß. Langsamer wäre mir jetzt deutlich lieber, obgleich es rein seglerisch natürlich mehr Spaß macht. Doch wenn ich schneller werde, werden es tendenziell auch die anderen. Ausguck gehen. Keine Geräusche. Keine schemenhaften Dreiecke. Es fasziniert mich. Ich bin aufgedreht. Es hat eine neue Dimension. Es ist ein bisschen wie Nachtfahrt im Hellen. Das Hirn spielt mir da einen Streich. Hell und dennoch keine Sicht. Ein kleines persönliches Abenteuer und meine kindliche Phantasie treibt im Wechsel mit meinem erwachsenen Ich sein Unwesen in meinem Kopf.
Die Nebelscheier kommen und ziehen weiter und in Momenten der Sicht blicke ich mich zu allen Seiten um, um mich zu vergewissern, welche Boote auf welchem Kurs unterwegs sind. Immer noch: Ausguck gehen. Ich finde immer mehr Gefallen an diesem Törn, denn er bringt nicht nur meine innere Freiheit mit sich, sondern schenkt mir auch neue Erfahrungen und Erkenntnisse und gibt meiner Wahrnehmung eine tiefere Bedeutung. Ich besinne mich noch intensiver auf mich selbst und nur mein nahes Umfeld rückt in den Fokus. Alles andere ist im wahrsten Sinne ausgeblendet.
Die Feuchtigkeit beginnt sich jetzt zu legen und mit erreichen der Innenförde zieht ein letzter dichter Schleier von Land übers Wasser. Drei Boote kamen von vorn, doch sie kamen in Phasen der besseren Sicht und unsere Kurse lagen weit genug auseinander. Der angenehme Wind behielt seine Richtung und niemand kreuzte unnötig. Ein Ankerlieger machte trötend auf sich aufmerksam und keine Geisterschiffe tauchten aus dem Nichts auf. Seemannschaft bestanden. Alle miteinander.
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