Es ist Ende April. Überall auf den Stegen tummeln sich nun wieder mehr und mehr Segler. In einigen Boxen liegen Boote noch ohne Mast, in anderen werden gerade die Segel angeschlagen oder das Rigg getrimmt. Polster werden an Bord gehievt und erster Proviant verstaut. Das Leben in den Marinas ist nach dem Winter zurück gekehrt. Freudiges Winken, fröhliches Grüßen und die wie in jedem Jahr verspäteten, witzig und doch halb ernst gemeinten Neujahrwünsche huschen von Boot von Boot, während in den Gesichtern der neuen und altbekannten Stegnachbarn sich die Vorfreude auf die kommende Saison zeigt. Was einzig noch fehlt sind die wärmeren Temperaturen.
Mit zwei Jacken übereinander gekleidet, wie im Winter, verlasse ich den Hafen. Es ist langes Wochenende. Ich habe Zeit. Und ich will wie üblich raus. Irgendwo hin. Ganz egal. Hauptsache mit dem Boot weg. Denn auch wenn ich versuche, mich mehr und mehr mit meiner Wohnung zu arrangieren, so bleibt es doch mein Boot, auf dem ich mich weitaus wohler und mehr zu Hause fühle und in dessen Salon ich eigentlich so gut wie alles habe, was ich mein Herz begehrt.
Das leuchtend warme Blau des Himmels trügt heute, denn der Wind prischt mit durchschnittlich 17 Knoten aus Ost seinen noch immer viel zu kalten Atem mit gutem Druck in meine Segel. Findus teilt dabei gelassen und schwungvoll die See, während ich in den vorherrschenden Böen den Kurs unter Gegendruck an der Pinne halte. So viel Wind war gar nicht angesagt und ich bin froh, dass ich vorm Ablegen sicherheitshalber schon gerefft habe, um den Druck so aus meinem Boot zu nehmen. Wenn ich auch gern seine Kraft beim Segeln spüre, so entscheide ich doch ebenso gern selbst, wie viel Kraft und Druck ich ganz persönlich an Bord und auf See haben möchte. Mein Großsegel steht im ersten Reff heute nicht wirklich perfekt, doch was solls. Perfektion ist letztlich auch nur eine Art seine eigenen vermeindlichen Fehler im Außen korrigieren zu wollen, anstatt sich seiner selbst voll und ganz bewusst zu sein und sich selbst auch mit eventuellen Unzulänglichkeiten anzunehmen. Ich bin mir meiner selbst mittlerweile bewusst und ein nicht optimal stehendes Segel ist für mich kein Grund, weder mein Selbst, noch mein Boot in irgendeiner Form perfektionieren zu müssen. Für zwei Stunden, und mehr werden es heute ohnehin nicht werden, wird das jetzt auch so gehen. Schnell genug ist Findus ohnehin, auch mit verkleinerter und etwas faltiger Segelfläche.
Marina Minde liegt im Nu vor mir. Wieder einmal. Für dieses Jahr habe ich mir vor drei Wochen direkt eine siebener Karte beim Hafenmeister geholt. Für sechs Mal anlegen bezahlen und die siebte Nacht umsonst liegen. Durch meine neu erworbene Freiheit und die aufkeimende Selbstständigkeit meiner Jüngsten, ist Marina Minde der ideale und nicht zu weit entfernte Hafen, um an den Wochenenden auch mal über Nacht raus zu kommen.
Den Anleger im Hafen verhaue ich wieder ein mal vollkommen. Aber das kenne ich mittlerweile und verliere dabei schon länger keine Nerven mehr. Der Wind versucht meinen Bug von vorne an backbord weg zu drücken, ich halte gegen. Die Luvleine achtern ist fest. Lee ebenfalls. Noch steht mein Boot einigermaßen gerade in der Box. Doch der nächste Windstoß versetzt Findus‘ Bug nach steuerbord und ich bin froh, dass die vorhandene und von mir bewusst gewählte Sorgleine in Lee der Box mein Boot hält. Ich lasse die Maschine eingekuppelt um nicht nach hinten, und somit wieder aus der Box hinaus, getrieben zu werden und gehe auf den Bug. Per Hand ziehe ich mich an der Sorgleine weiter in der Box nach vorn und springe schnell über, um an Land festzumachen. Graziös sah das ganz sicher mal wieder nicht aus, aber ich bin fest. Immerhin. Und ohne fremde Hilfe. Bei 17 Knoten Seitenwind. Mit meinem leichten Boot. Und ob es nun angebracht sein mag oder nicht, ich bin stolz auf mich und klopfe mir in Gedanken selbst auf die Schulter.
Es dauert nicht lange und schon werde ich mit dem Auto wieder abgeholt. Heute helfe ich einer Freundin. Sie ist seglerisch noch nicht allzu lange dabei und ihr Boot kommt heute in Toft ins Wasser. Mit seelischer Unterstützung, tatkräftiger Hilfe und der einen oder anderen eigenen Erfahrung stehe ich ihr heute gern zur Seite. Ich freue mich, dass ich helfen kann und gleichzeitig gewinne ich so neue Eindrücke über eine mir bislang nur namentlich bekannte Marina und deren Yachtservice, von dem ich durchweg positiv angetan bin. Service ohne Stechuhr, ein Groß an Menschlichkeit und ein lockeres und fröhliches Miteinander vermitteln eine positive und auf Augenhöhe basierende Atmosphäre. Ihr Schiff liegt im Nu im Wasser und ist aufgeriggt.
Für uns heißt es jetzt das laufende Gut klarieren, kurze Überführung nach Marina Minde unter Motor fahren und dort die Genua und das Großsegel anschlagen. Bei der vorherrschenden Kälte und dem noch immer anhaltenden Nordostwind nicht unbedingt eine Freude, doch die kleine Jeannau liegt nur wenig später wohlbehalten auf ihrem Sommerliegeplatz und ist segelklar. Ihre Eignerin ist glücklich und auch ich bin zufrieden mit mir.
Am Abend beginnt es leicht zu regnen. Zarte Tropfen klopfen auf mein Deck, während unten im Salon die Heizung läuft und ich es mir auf meiner Koje bequem mache. Wie schön das Leben doch ist.
Der nächste Morgen beginnt erneut mit strahlend blauem Himmel und noch während ich schläftrunken auf meiner Koje liege überlege ich, wann und wohin ich aufbrechen soll. Eine grobe Idee ist erneut die Dyvig. Ich gucke auf mein Handy und checke die entsprechenden Wind- und Wetteraussichten und spüre dabei einen unangenehmen Druck in mir aufkeimen. Will ich überhaupt los? Muss ich wirklich weiter? Was will ich eigentlich? Noch ist der Wind für meine Ansprüche genau richtig. Doch es ist noch so früh und ich bin, sicher auch durch die ungewohnten Arbeiten am gestrigen Tag, noch vollkommen schlapp. Einfach ein bisschen rumliegen und die Ruhe genießen fände ich jetzt auch ganz schön. Doch später frischt der Wind wieder auf und auf Kraftakt beim Segeln habe ich heute so absolut keine Lust.
Kurzzeitig springen meine Gedanken hin und her. „Du musst los. Jetzt. Du hast nur drei Tage und musst ja auch wieder zurück.“ „Aber ich bin so schlapp und möchte noch ein bisschen faul sein“ „Nein man, du musst los. Nachher ist es zu windig. Überleg doch mal; Wind, eventuell wird es voll im Hafen, es ist langes Wochenende und alle sind unterwegs. Du musst jetzt los, sonst ist es zu spät“.
Stop. Ich erinnere mich an die Worte eines lieben Menschen, der mir in meinen dunkelsten Zeiten immer wieder Mut und Kraft gegeben hat. Wie war das noch, was sagte er damals? „… und das Bescheuerste ist dann auf Gedeih und Verderb im falschen Moment loszufahren, weil du glaubst, du muss es irgendwem beweisen, Dir, mir oder irgendeinem der im Hafen sieht, dass du schon zwei Tage da liegst, und denkst, ich kann jetzt nicht noch einen Tag hier liegen. Doch Marion, kannst du!“.
Genau. Und deshalb entscheide ich mich heute gegen ein Ablegen und gegen das Segeln und spüre, wie der innere Druck, der versucht erneut in mir Fuß zu fassen, einer entspannten Gelassenheit weicht. So sehr ich das Segeln auch liebe, so ist doch jeder Liebe auch eine Grenze gesetzt. Denn Liebe tut nur dann gut, solange sie freiwillig und ohne Zwang, ohne Schmerz und ohne Druck von ganz tief innen und aus voller Überzeugung das eigene Herz entflammt. Wenn sie leuchtet und wärmt und wenn sie nicht über den eigenen Bedürfnissen steht.
Ich bleibe also. It’s „me-time“ now. Und nach einem späten und ausgiebigen Frühstück schlendere ich langsam über die einzelnen Stege. 34 Nächte lag ich in den vergangenen sechs Jahren bereits über Nacht in Marina Minde, doch nie zuvor habe ich mir die Zeit genommen, wirklich alle Stege einmal bis zum Ende zu gehen. Es ist eine neue Art von Freiheit, die ich gerade für mich entdecke. Es ist ein selbstbestimmtes „ich kann“ und kein „ich muss“, was in der Tat gerade unheimlich viel Druck aus allem raus nimmt und mich in meinem Sein bestärkt. Ich fühle mich wie die kleinen Quallen im Sonnenlicht, die unter Wasser pulsieren. Und genau so pulsiert auch mein Sein, ausschließlich in meinem eigenen und ganz persönlichen Tempo.
Am Nachmittag bekomme ich eine Einladung zu Kaffee und Kuchen auf der kleinen Jeannau, die gestern zu Wasser gekommen ist und der restliche Tag vergeht nun wie im Fluge. Nette und witzige Gespräche, Sonne tanken auf dem schmalen Sonnendeck des Vorschiffes im Windschatten der Sprayhood und abends sogar ein einfaches und spontanes Grillen. Einfach in den Tag hineinleben. Ohne Druck. Ohne Zwang. Entspannung pur. That’s life.
Es ist nicht ausschließlich nur das Segeln. Wobei ich auf dem Wasser in der Tat, allein schon durch das Feeling und die Stille um mich herum, am besten und vorallem sehr intensiv in mich hineinblicken und das Leben und was mich umgibt verstehen kann. Doch Schritt für Schritt werden es jetzt auch die Momente im Hafen und an Land, denen ich beginne das eine oder andere abgewinnen zu können. Soziales Leben ist nunmal der Gegenpol zu meinem geliebten Alleinsein, auf das ich bei aller Liebe und Freundschaft im Leben niemals verzichten möchte.
Am Abend verzaubert heute das Licht der untergehenden Sonne den Himmel. Das ist der Moment, wo ich nicht mehr ruhig sitzen bleiben kann. Wieder und wieder muss ich raus, muss auf den Steg und die Farben in ihren Nuancen in mich und für mich aufnehmen. Ich halte sie fest. Schaffe meine eigenen Erinnerungen und genieße diese pure Schönheit.
Erst wenn der letzte orangene Lichtstreif hinter den unzähligen Masten und auch dem Land verschwindet, komme ich wieder zur Ruhe und kann mich gelassen auf meiner Koje der anstehenden Nacht hingeben. Das muss wohl so ein inneres Ding sein. Etwas ursprüngliches. Ein Lebenrhythmus, dem ich mich gern füge. Doch ich mag es einfach nicht, die Schönheit der Natur auszublenden und in irgendeiner Form eingesperrt, diesen Zauber zu verpassen.
So ähnlich der Anblick in den einzelnen Momenten auch sein mag, er unterscheidet sich doch permanent vom vorigen und es sind die detailreichen Unterschiede der Farbgebung im Gesamtbild, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ich kann natürliche Schönheit nunmal nicht oberflächlich betrachten und sehe auch im Unperfekten und scheinbar Verlorenen das kleine und liebendwerte Etwas, in dem, zumindest für mich, der wahre Kern des Schönen liegt.
Segeltraining: Die kleine Jeannau ist noch etwas unsicher und ihre Eignerin möchte beim ersten Mal ungern allein und einhand raus auf die Förde. Gern helfe ich dabei und biete ihr so auch heute meinen mentalen Beistand an und gebe den einen oder anderen unterstützenden und aus der eigenen Erfahrung für gut befundenen Rat. Die Situation erinnert mich an meine eigenen Anfänge. Die Unsicherheit, die Fragen und auch der während des Segelns bewusst gewählte Abstand zu den weiteren Seglern sind mir nicht unbekannt. Es ist erstaunlich, wie viel sich doch seitdem bei Findus und auch bei mir selbst getan hat. Wie gelassen ich das heute alles sehe und was ich seit dieser Zeit alles gelernt gabe. Vor sechs Jahren nämlich war ich diejenige, die aufgeregt und mit schlotternden Knien an der Pinne stand und mit einem aufgeregten Kribbeln im Bauch die Leinen des eigenen Schiffes los gemacht hat.
Die kleine Jeannau segelt gut und ich denke es steckt bei entsprechendem Refit auch noch einiges an Potential in ihr. Doch das ist Zukunftsmusik und heute nicht wichtig. Entscheidend ist heute einzig das Gefühl der Eignerin. Ihr Stolz auf sich selbst, ihr Mut die verbliebene Unsicherheit überwunden zu haben und die Gewissheit das Richtige getan zu haben.
Es ist ein schönes Gefühl helfen und meine bisherigen Erfahrungen weiter geben zu können. Und es ist interessant andere Boote unter Segeln zu erleben, sie in gewisser Hinsicht zu vergleichen, ihre Vorzüge, aber auch Nachteile zu sehen und so den eigenen Horizont zu erweitern. Ich bin dankbar dafür, dass es Menschen gibt, denen an meiner Meinung und Einschätzung gelegen ist und denen ich mit meiner bloßen Anwesenheit Vertrauen in das eigene Tun und Handeln vermitteln kann.
Doch so schön und spannend das alles auf und mit anderen Booten auch ist, so bin ich doch froh am Abend wieder auf meinem eigenen kleinen Schiff zu sein. Denn auch wenn Findus das eine oder andere nicht zu bieten vermag, so stimmt hier doch mein Gefühl und das ist es schließlich, was für mich den alles entscheidenden Faktor ausmacht. Findus ist sicherlich nicht perfekt. Doch was schrieb ich noch zu Anfang dieses Blogeintrages? Perfektion ist nur ein Mittel innere und vermeintliche Fehler aufzuhübschen und das haben weder Findus noch ich nötig. Zwar optimiere ich mein Boot hin und wieder hier und da und passe es meinen persönlichen Bedürfnissen an, doch perfektionieren muss ich es nicht. Findus ist richtig so wie er ist und genau das macht mein Boot zum perfekten Schiff.
Wunderschön geschrieben. Auf eine schöne und aufregende Saison 2023