Heute geht es hoch. Ein klein wenig weiter nach Norden. Nicht da, wo ich eigentlich hin will, doch heute möchte ich endlich mal für ein paar ganz wenige Meilen kein Land mehr vor meinem Bug sehen. Ich möchte mich der Illusion von Freiheit hingeben und meinen Traum, wenn auch nur ansatzweise. Ich möchte für ein paar Stunden das Leben, so wie ich es empfinde, spüren.
Der über der Marina sitzende Nebel verzieht sich bereits ganz langsam und noch ehe ich den Hafen verlasse, steht die Sonne bereits so hoch, dass es im Vergleich zu den Vortagen sogar leicht warm ist.
Ich lege heute bewusst um genau diese Zeit ab, denn die Strömung zwischen Festland und Fyn ist aktuell mit mir und kompensiert so den noch nicht vorhanden Wind. Die Temperaturen versprechen einen schönen Segeltag und auch wenn der Wind heute eher flau ist, verlasse ich um kurz nach acht Uhr am Morgen den Yachthafen von Middelfart.
Heute ist es ruhig hier draußen und noch sind nicht viele Boote unterwegs. Wie ich vor elf Tagen schon ein Mal den Fænøsund Richtung Norden verlassen habe, fühlte es sich nicht gut an. Zu viel Wind und zu viel Welle habe ich hier empfunden und ich hatte Schwierigkeiten mich im Wirrwarr des Verkehrs zu orientieren. Heute bin ich um einiges mehr bei mir selbst und könnte anders mit derartigen Bedingungen umgehen, dennoch freue ich mich aktuell über die vorherrschende Flaute, da ich so auch dazu komme, die Landschaft um mich herum viel intensiver und ausdauernder zu bestaunen und genießen zu können.
Schön ist es hier und wenn keine Unmengen an Booten unterwegs sind, gefällt es mir auch gleich viel besser. Ich bin eben gern allein und mag ungern, abgelenkt von anderen, auch nur einen Teil der Schönheit um mich herum verpassen. Ich möchte alles in mich aufnehmen. Die Landschaft mit ihren Farben, den Himmel, wie er sich im aalglatten Wasser spiegelt oder auch einfach mein Boot, wenn es mich an den Küsten entlang trägt und ich dabei seinen Geräuschen lausche.
In der Engstelle des Lillebælts strömt es nicht mehr ganz so stark wie erhofft, aber dennoch komme ich gut voran. Wind ist hier auch noch keiner und so lege den Hebel auf den Tisch und gebe ordentlich Gas, um zügig unter den Brücken durchzufahren. Es ist immer wieder faszinierend, wie die Perspektive einem einen Streich spielt.
Von unten sieht es irgendwie immer so aus, als würde mindestens die Antenne die Brücke streifen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich bin immer froh, wenn ich durch so eine Brücke durch bin. Ihre massive Konstruktion, das Eigengewicht welches sie trägt und obendrein noch die Belastung in Form von Eisenbahn und Autos, sind mir irgendwie nicht so ganz geheuer. Ich bin kein Statiker und es fällt mir immer wieder schwer, mir vorzustellen, wie das Fundament eines derart massiven Bauwerks im Wasser verankert sein soll.
Zu meiner linken liegt Fredericia mit all seiner unschön anzusehenden Industrie, doch an Steuerbord haftet der Blick für den Moment. Es ist die letzte kleine Landzunge, bevor mich dieses scheinbar endlose Blau erwartet. Der Leuchtturm von Strib markiert für mich persönlich gerade die Trennlinie zwischen einer in Rollen verpackten Zivilisation und der ganz eigenen Freiheit.
Das ist es. Das Nichts. So weit, so offen, so wunderschön. Mit nichts zu vergleichen liegt es endlich in seiner vollen Schönheit vor mir. Und wer jetzt an einen Ostseestrand denkt, an dem er im Sand stehend hinaus aufs Meer blickt, der liegt vollkommen falsch, denn das hier ist für mich etwas ganz anderes. Mit dem Gefühl an Bord, den leichten Bewegungen, die mein Schiff auch unter Maschine macht, wenn es sich seinen sturen Weg durch die See bahnt, bekommt dieser Anblick der vor mir liegenden Kimm eine komplett andere Bedeutung.
Hier liegt ein Stück Freiheit. Ein Privileg, und dessen bin ich mir absolut bewusst, was nicht vielen Menschen zugänglich ist. Doch ich habe es geschafft. Ich bin hier. Habe mich befreit von so vielen Fesseln, die mir das Leben angelegt hatte. Ich habe für mich herausgefunden, was ich wirklich will, was mich zufrieden stellt, was mich glücklich macht. Ich habe ein klar definiertes Ziel vor Augen an dessen vollkommener Umsetzung ich zwar noch arbeiten muss, welches ich jedoch hier und jetzt bereits ansatzweise in mein Leben hole.
Der Wind weht mäßig und Findus gleitet nur langsam durchs Wasser. Ich bin dankbar dafür. Ohne knatternde Maschine kann ich die Ruhe hier draußen spüren und diese Stille berührt mich. Jede Sekunde ist kostbar. Wie ein zerbrechlicher Augenblick, den es festzuhalten gilt. Und das tue ich. Ich halte diesen Moment in meinem Herzen fest. Sauge ihn auf, mit allen Fasern meines Seins. Ich atme tief, schließe die Augen, komme an. Ich bin so nah bei mir selbst, wie ich sonst nirgendwo bin. Das pure Glück.
Ich befinde mich emotional in einer anderen Sphäre. Als habe ich verlassen, was mich scheinbar ausmachte. Doch was war das? Auferlegte Rollen, gesellschaftliches funktionieren, angepasstes Sein. Wer sind wir wirklich? Was ist unser wahrer Kern? Jener Kern des Seins, bevor Konditionierungen und Zwänge unseren Alltag prägten. Wer bist du? Wer bin ich? Tiefe Fragen, deren Beantwortung das bisherige Selbstbild in Frage zu stellen drohen, doch deren Erkenntnis so befreiend und wohltuend ist.
Hier bin nur ich. Mit mir allein. Und ich liebe dieses Alleinsein. Vielleicht liebe ich es, weil da doch eine unterschwellige Angst in mir lauert, die fürchtet, das mein wahres Sein keine Anerkennung in der Menge des Lebens finden könnte. Hier draußen muss ich mich nicht rechtfertigen, mich nicht erklären, nicht anpassen. Hier bin ich ein Teil dessen, was mich umgibt und dieser Teil fügt sich ein in etwas Großes und Ganzes und ist einfach da.
Ich lasse den Autopiloten steuern und Findus segelt mit nur zwei Knoten gemächlich vor sich hin. Hier draußen ist niemand. Die meisten Segler nehmen die üblichen Routen und Reihen sich ein, in ein Band aus Segeln, um zum nächsten Zielhafen zu gelangen. Ich möchte das nicht und segle einfach nur so, wie es sich gut anfühlt. Einfach jenem für eine zeitlang entgegen, was mich glücklich macht. Ich nutze die sich mir gebende Gelegenheit und mache es mir auf meinem kleinen Sonnendeck auf dem Vorschiff bequem.
Ich bin glücklich. Das Alleinsein stellt für mich den ersten Schritt zum eigentlichen Sein da. Nur im Alleinsein finde ich heraus, wer ich eigentlich bin. Nur auf mich gestellt, erkenne ich meine eigenen Stärken und Schwächen und lerne mit ihnen umzugehen. Die Akzeptanz meines puren Selbst, ohne jeglichen Kampf für oder gegen eine auferlegte oder erwartete Rolle ist für mich der Beginn des eigentlichen Lebens.
Irgendwann ist es dann aber doch wieder da. Das Muss. Ich kann hier nicht weiter. Ich muss umdrehen und den Kurs auf den Hafen setzen. So schön es auch ist, es ist nur ein Einblick in das, was mein wahres Ziel ist. Schweren Herzens ändere den Kurs und mache einen ersten Schlag zurück Richtung Fyn. Dabei sauge wieder und wieder ein, was mich umgibt. Halte mit dem Herzen fest, was meine Augen betrachten und mache immer wieder Bilder von diesem unsagbar schönen Traum.
Doch dann kann ich einfach nicht anders. Kurz dem Flachwasser vor Bogense wende ich erneut und muss nochmal raus. Der Wind hat jetzt zugenommen und ich kann einfach noch nicht in den Hafen fahren. Ich muss hier bleiben und noch ein bisschen segeln. Unbändige Energie sprudelt nun aus mir hervor. Das Glück als Überlauf.
Meilen um mich herum ist kein Boot mehr zu sehen und mich überkommt das Bedürfnis laute Musik zu hören. Heute sind es Schlager, die aus meiner bluetooth Box tönen und aus vollem Halse gröle ich mehr, als dass ich singe.
Ich bin glücklich und für den Moment genau da, wo ich sein möchte.
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