Draußen ist es stockfinster. Es ist kurz nach vier Uhr am Morgen und ich liege mal wieder wach in meinem Bett. Zu viele Gedanken machen sich breit und rennen unkontrolliert kreuz und quer durch meinen Kopf. Eigentlich bin ich ja viel zu müde um aufzustehen und würde gern einfach nur weiterschlafen. Doch andererseits verspricht das Wetter heute endlich mal wieder einen schönen und sonnigen Tag, von dem ich nichts verpassen möchte.
Soll ich heute also mal wieder segeln gehen? Allein da draußen? Nur Findus und ich? Mein Verlangen nach tiefer Stille, echtem Sein und innerer Freiheit ist schon unerhört groß und die letzten Male, die ich auf der Förde war, liegen zwar noch gar nicht wirklich weit zurück, doch waren sie beruflicher Natur und kein Vergleich mit dem, was ich unter Segeln auf Findus zu spüren vermag. Zu lange war ich nicht mehr mit meinem Boot draußen und fühle jetzt doch ganz deutlich diese unbändige Sehnsucht in mir.
Die vorige Nacht hatte ich an Bord verbracht und sie hat mir mal wieder gezeigt, was mein kleines Boot mir bedeutet. Es ist mein wahres Zuhause. Mein Wohlfühlort. Meine Oase. Findus ist mein Anker, mein Retter und Tröster. Er ist Heiler und Therapeut. Mein Freund und Helfer. Findus kennt meine kleinen Geheimnisse, meine Sorgen und Ängste und mein wahres Selbst. Nirgendwo sonst erlebe ich mich in dieser reinsten Form meines eigentlichen Ichs. Findus schafft es auf unerklärliche Art immer wieder aufs Neue, das Beste aus mir herauszuholen und dafür liebe ich dieses kleine und alte Schiff. Ja, ich liebe es. Und zwar auf ewig.
Und ja, ich will raus. Ich will segeln und mich frei fühlen. Und ich möchte Findus zurückgeben, was er auch mir immer wieder schenkt. Dieses Gefühl von unermesslicher Freiheit. Frei von den Fesseln der Vergangenheit, frei von tagtäglichen Rollen und frei von auferlegten Konditionierungen. Frei von allem, was oft einschnürend von außen auf mich wirkt. Auch Findus ist frei da draußen. Frei von ruckenden Leinen, die ihn zwischen Dalben und Steg gefangen halten. Und frei seine Bahnen zu ziehen. Wir beide, auf dem Weg dorthin, wo der Wind uns trägt. Ohne Plan und ohne Ziel.
Noch vor Sonnenaufgang verlasse ich den in Schlaf gehüllten Hafen und erahne bereits nach wenigen Minuten die Schönheit, mit der mich dieser Tag empfängt. Ungläubig blicke ich mich um und spüre, wie eine wunderbare Energie mich durchdringt. Ich kann nicht anders und werde unmittelbar Eins mit dem, was mich umgibt.
Es ist verrückt. Das muss es wohl sein, denn kaum jemand versteht wirklich, was mein Herz empfindet, wenn die Stille mich erfasst und dieses kleine Boot mich sanft schaukelnd zu mir selbst bringt. Ich bin allein hier und doch bin ich es nicht. Denn hier draußen fühle ich mich verbunden und diese Verbundenheit ist es, die jegliches Gefühl von Einsamkeit an Land auf magische Weise in pure Glückseligkeit auf dem Wasser verwandelt. Hier bin ich mit allem eins.
Die Lufttemperatur beträgt gerade mal vier Grad, doch ich spüre keine Kälte. Allein das Licht der aufgehenden Sonne wärmt mich von innen. Ungläubig blicke ich mich um. Ich bin noch keine dreißig Minuten auf der Förde und doch bin ich bereits da, wo meine Welt eine so vollkommen andere ist.
Für manchen mag es nur ein Haufen Plastik und altem Holz sein, doch ich sehe mehr in diesem Boot. Es ist nicht bloß seine Form und Optik. Es ist nicht nur der in meinen Augen anmutende Bug, die schlanke Linie, der durchdachte Aufbau. Es ist auch nicht nur der Gesamteindruck oder die Segelleistung, die dieses Schiff ausmachen. Nicht nur die kleinen und durchdachten Details, die praktische Aufteilung des Innenraums oder die verschiedenen Staumöglichkeiten. Es ist auch nicht nur die Stärke und Leistungsfähigkeit dieser knappen acht Meter Schiff. Es ist zum Teil sicherlich die Einfachheit dieses Bootes, denn ich mag das Schlichte und Bescheidene. Und es ist auch das Alter und die Geschichte dieser Polaris Drabant 26. Doch was dieses kleine Schiff in meinen Augen wirklich ausmacht ist, so verrückt es auch klingen mag, seine Seele.
Es ist mir dabei schlicht egal, was andere darüber denken. Denn das, was ich fühle und spüre, sobald ich an Bord meines Bootes bin, das kommt vollkommen pur und gefüllt mit meiner eigenen und ganz persönlichen Wahrheit aus meinem Inneren. So sehr ich es also auch versuche meiner Liebe mit Worten Ausdruck zu verleihen, ich werde niemals wirklich vermitteln können, was es wirklich mit mir macht, wenn ich hier draußen bin und was dieses Boot in mir auslöst.
Auf See ist Findus sowas wie die Verlängerung meines Selbst. Wir sind ein Team, eine Einheit. Wir gehören zusammen, sind füreinander da und wir brauchen einander.
Ja, wir brauchen einander. Denn einst lag Findus einsam und verlassen für viele Jahre im Hafen. Gebunden und vergessen. Niemand erkannte die Kraft und wahre Schönheit in diesem kleinen Boot. Wie Dornröschen lag es da und wartete geduldig bis zu dem Tag, an dem sein „Leben“ eine neue Wendung nahm. So wie auch mein Leben durch Findus sich neu sortierte und es auch heute noch bei jedem auch noch so kleinen Törn noch immer tut.
Die Segel stehen und der spärliche Wind trägt mich leise voran. Ich liebe es an Deck zu stehen und mich um zu blicken. Auf das, was achteraus immer kleiner und unscheinbarer wird und auf alles, was noch vor mir liegt. Es ist die Neugier auf das Unbekannte, die Zuversicht und Hoffnung, die in der Weite liegt. Hier werde ich nicht aufgehalten und nicht blockiert im Sein. Im Gegenteil, ich bin vollkommen im Flow und zutiefst zufrieden mit allem was in mir ist.
Jetzt, wo sich in der dunklen Jahreszeit die Sonne für nur wenige Stunden am Himmel zeigt und ihr strahlendes Licht seinen cremigen Hauch von Anfang und Ende des Tages nicht leugnen kann, spüre ich das Glück nochmal intensiver.
Mein Boot liegt im Wasser. Immer. Im Sommer, wie auch im Winter. Und wann immer es mich antreibt hinaus zu fahren, so muss ich nicht bis zur nächsten Saison warten, sondern genieße die Stille der Förde.
Braucht es für mich im Sommer oft den Blick auf den freien und klaren Horizont, auf die unendliche Weite und die menschenleere See, so fühle ich ab dem späten Herbst auch hier auf dem doch stark mit Land begrenzten Wasser ein Stück weit dieses vertraute Angekommen bei mir selbst. Unbeobachtet und frei.
Da sind keine weißen Segeln, die meinen Weg kreuzen, kein Geheule und Geknatter einer vorbeifahrenden röhrenden alten Maschine und auch keine schnelle Bugwelle einer mit viel zu viel PS vorbei rasenden Motoryacht. Es ist einfach nur ruhig hier, während Findus kaum spürbar und lautlos durchs Wasser gleitet.
Nur hin und wieder plätschert eine zarte Welle an Findus’ Rumpf und hinterlässt diesen spitzen und zugleich auch tiefen Ton im Klangkörper meines Schiffes. Ich liebe diese glucksenden Geräusche, die mich bei wenig Wind und langsamer Fahrt begleiten. Sie klingen schön und vertraut und sind eine ganz besondere Art von Musik in meinen Ohren. Eine Komposition des Meeres, die niemals langweilig wird.
Meine Gedanken sind hier frei. Und was an Land oft ein chaotisches Wirrwarr in meinem Kopf hinterlässt, findet hier draußen eine Struktur, in der alles einen Sinn ergibt und sich richtig und stimmig anfühlt.
Und doch ist da auch immer wieder diese Sehnsucht. Dieser Wunsch. Dieses Verlangen. Ich will raus, möchte weg. Einfach abhauen und alles hinter mir lassen. Das klingt sicherlich irgendwie nach Flucht, doch ist es das wirklich? Oder ist es mehr das Bedürfnis anzukommen?
Hier draußen finde ich Ruhe und Zeit und genug Raum für meine ganz persönlichen Fragen und Antworten des Lebens, die mir in meinen Überzeugungen und in meinem Sein immer wieder begegnen. Und hier draußen kann ich jede Frage ohne Beeinflussung von außen emotional auf mich wirken lassen, um letztendlich auf eine für mich richtige und überzeugende Antwort zu finden.
Ich liebe diesen stillen Dialog mit mir selbst. Wo, wenn nicht hier, bietet das Leben heute schon noch diese unendlich wertvolle Möglichkeit, mit sich selbst in Kontakt treten zu können?
Ich blicke jetzt auf die Außenförde und grinse in mich hinein. Dieser Blick ins vermeintlich Offene, er ist so schön und so inspirierend. Und wenn es auch täuscht und recht voraus noch immer ein flacher Schimmer Land am sich anbahnenden Horizont zu sehen ist, so setzt der Blick in diese Richtung doch nochmal eine gigantische Portion Glück in mir frei.
In diesem Jahr werde ich nicht nochmal weg kommen. Ich werde nicht noch einmal den Kalkgrund hinter mir lassen können und über den Lillebælt in die dänische Südsee oder in Richtung Nordfyn segeln können. Auch das Smålandfarvandet und den Storebælt sehe ich, so Gott will, im nächsten Sommer aus der Perspektive meines Bootes erst wieder. Doch für den Moment ist das in Ordnung und ich bin im Frieden damit.
Will ich im Sommer doch am Liebsten immer weiter segeln und im besten Fall nie mehr umkehren müssen, neue Häfen entdecken, mir unbekannte Landstriche ansehen und mir meinem eigentlichen Wesen nah sein, so kann ich jetzt gut damit umgehen, eben nicht die imaginäre Grenze zwischen Außenförde und Lillebælt zu queren. Nein, ich bin zufrieden mit dem, was ich hier habe. Und ich bin dankbar.
Ich denke gern zurück an all die Orte, die ich ohne Findus so nie kennengelernt hätte. Und auch an die Menschen, denen ich ohne mein Boot nie begegnet wäre. Einige kenne ich nur flüchtig und man begegnet sich von Jahr zu Jahr unbeabsichtig oder auch geplant in irgendeinem Hafen. Andere sind zu guten Seglerfreunden geworden und wieder andere sind mir sehr ans Herz gewachsen. Es ist schön, jedem einzelnen von ihnen begegnet zu sein. Selbst jene, denen ich bisher bewusst nur einmal in meinem Leben begegnet bin, auch sie haben positive Spuren bei mir hinterlassen und zaubern mir hin und wieder bei der Erinnerung an diese kleinen Begegnungen ein Lächeln ins Gesicht.
Der Wind ist jetzt völlig verschwunden und in Anbetracht der Meilen, die ich wieder zurück in den Heimathafen muss, wende ich mein Boot und mache mich langsam auf den Rückweg. Es wird dauern bis ich ankomme, doch für die Jahreszeit es ist warm und ich habe hier nun sowas wie Gesellschaft bekommen.
Neben mir ziehen still und fast unscheinbar Scharen kleiner, roter Feuerquallen vorbei. Sie schweben lautlos durchs Wasser und ich kann nicht aufhören ihnen beim gleichmäßigen Pulsieren und schwerelosen Dahinziehen zuzusehen. Für mich sind sie unheimlich hübsche und ästhetische Tiere und ich freue mich über ihre stille Gesellschaft.
Nicht selten stelle ich mir hier draußen an Bord die Frage nach dem ein oder anderen „Warum“ und bekomme einfach nicht die geringste Idee von einer Antwort. So auch bei folgendem Gedanken; Vor Jahren, in meinem ersten Segelsommer überhaupt, erzählte ich im Gespräch am Steg mal einem fremden Segler von einem riesigen Quallenfeld in der Förde, durch das ich hindurchgesegelt war. Abwertend und genervt meinte er nur völlig trocken: „Die muss man unter laufenden Motor alle schreddern!“ Warum? Warum sollte man soetwas abwegiges tun? Warum können Menschen nicht in Frieden und im Einklang mit ihrer Umwelt sein?
Vielleicht ist auch das ein Grund, warum ich so gern allein segle. Allein und ohne (negative) Einflüsse von außen. Hier draußen schöpfe ich Energie und tanke auf. Hier draußen bin ich eins mit meiner Umwelt. Ich fühle mich verbunden mit den Kräften der Natur und ich fühle mich als Teil eines Großen und Ganzen. Diese Schwingungen im Einklang mit dem, was mich umgibt, die sind es, die mich bei mir selbst ankommen lassen.
Doch hier draußen bin ich nicht nur verbunden mit dem, was mich umgibt, sondern in erster Linie auch mit mir selbst. Und Verbindung schafft Nähe und ich spüre die Nähe zu mir. Meine inneren Anteile aus unglücklichen Tagen finden Frieden im Hier und Jetzt und genau das ist das Gefühl, was mich eine tiefe Zufriedenheit spüren lässt.
Die Tage neigen sich jetzt im Herbst schon früh einem Ende entgegen und die Sonne verschwindet auch heute viel zu schnell hinter einem grauen Wolkenschleier, der sich über dem Wald am Hang der Küste erstreckt. Wunderschön sieht es aus. Ich liebe dieses Licht am Morgen und am Abend und es wird mir nie langweilig diesem Farbenspiel zu frönen. Im Gegenteil, jeder einzelne Sonnenaufgang und ebenso jeder einzelne Sonnenuntergang ist etwas vollkommen einzigartiges. Es ist einfach wunderschön und in meinen Augen jedes Mal wieder besonderes.
Über zehn Stunden war ich nun mal schneller und dann wieder langsamer unter Segeln unterwegs und es wird noch eine weitere Stunde unter Maschine hinzu kommen. Noch ist es zum Glück nicht ganz vorbei und ich lasse den Tag in Gedanken noch mal Revue passieren.
Der kühle und klare Morgen mit seinen kräftigen Farben. Die einsame Innenförde in den Morgenstunden. Der sachte Wind. Die verlockende Leere der Außenförde und die niedrig am Himmel stehende Sonne, die mich trotz der Jahreszeit gut wärmte. Die unter Wasser schwebenden Quallen, deren Pulsieren ihre Kraft zeigt. Mein Sein und die Stille um mich herum. Und jetzt dieser wunderbare Abend, ebenfalls mit kräftigen und intensiven Farben am Himmel.
Was für ein Geschenk. Was für ein wahr gewordener Traum. Was für schöne Gefühle und was für ein Glück. In mir jetzt nichts als Dankbarkeit….
0 Kommentare