12. April 2025
Die Frage nach dem Sein

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“.

Dieser viel zitierte Satz aus Goethes Ostergedicht, den wohl jeder schon mal in irgendeiner Form gehört oder im alltäglichen Sprachgebrauch angewandt hat, trifft hier auf meinem kleinen Boot zu 100% auf mich zu. Nirgendwo sonst fühle ich mich so frei und ungezwungen wie an Deck meiner kleinen und alten Polaris Drabant.

Dieses Gefühl erreicht mich jetzt im Frühling, wo die Schatten des Winters kürzer werden und das Leben in der Natur aufs Neue erwacht, besonders. Alles grünt und sprießt und zarte Knospen an den am Ufer ausschlagenden Bäumen versprechen das pralle Leben des Sommers.

Doch wer bin ich ohne den warmen Atem dieses Außens? Bin ich ein anderer Mensch, wenn die Dunkelheit frostiger Tage über mir schwebt und mir die Lebensgeister auf Eis legt? Bin ich nur ich selbst, wenn ich mich auf See befinde? Bin ich wer anders, wenn mich das Land gefangen hält und mein Sein blockiert?

Was macht einen Menschen in seinem Wesen aus und wie bedeutend ist jedes individuelle Sein für die Gesellschaft in der wir leben? Belegt mit Funktionen, ob sie passen oder nicht nicht, werden wir geformt und in Schubladen verteilt. Das Außen entscheidet darüber wer wir zu sein haben und das echte Sein tief in uns drinnen verblasst nicht selten vor der Bürde der Verpflichtungen.

Während mir diese stillen Fragen und Gedanken ungefragt durch den Kopf geistern, beobachte die jungen Quallen im Wasser um mich herum und bin fasziniert von ihrem beständigen Pulsieren. Schwerelos schweben sie durchs Wasser und dabei sind sie einfach. Die sind. Im Sinne von Sein.

Quellen repräsentieren das Sein in meinen Augen wie kaum ein anderes Tier, was mir im Alltag hier oder dort begegnet. Viel zu oft belegen wir Menschen nämlich Tiere mit Funktionen und untergraben so auch ihre wahre Individualität.

Die gleichmütige Art der Quallen um mich herum überträgt sich auf mich und ich fühle mich beinahe ebenso ausgeglichen wie sie. Für den Moment fühle ich mich losgelöst von allem, was sonst so oft auf mir lastet. Für den Moment pulsiert mein Leben im Gleichtakt mit den faden Tieren.

Der Wind weht nur spärlich und Segeln lohnt sich noch nicht so wirklich. Erst später soll es auffrischen, weshalb ich die Ruhe an der Ankerboje vorziehe. Die Stille holt mich raus aus dem Funktionsmodus. Ja, hier bin Mensch, hier darf ich es sein.

Keine Verpflichtungen, keine Rollen, keine Funktionen. Weit genug entfernt von zu erfüllenden Klischees und auferlegten Mustern. Für einige Stunden einfach nur raus aus dem immer währenden Kreislauf unserer künstlich erschaffen Strukturen. SEIN.

Das Leben ist hier für mich ein anderes und doch ist es gleichzeitig auch das selbe. Meine Sinne sind hier mehr auf mich konzentriert und die Ablenkung im Außen wirkt kaum noch auf mich ein. Hier lebe ich. Hier lebe ich wahrhaftig mein eigenes Leben. Im Hier und Jetzt. Eigenverantwortlich.

Und doch vergeht dieser Moment auch wieder und ich passe mich den Bedingungen im Außen erneut an. Der Schwell um mein Boot kündigt den nahenden Wind an und ich spüre einen natürlichen Flow weiter zu Segeln.

Alles hat seine Zeit und wenn das Leben ungehindert fließt, dann bin ich im Einklang mit mir selbst. Dann bin ich Mensch. Dann kann ich’s sein.

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