Es ist einer der längsten Tage und der kürzesten Nächte im Jahr und es ist beinahe schon zur Tradition geworden, an einem dieser Tage, rund um die Sommersonnenwende herum, die Nacht hindurch zu segeln. Jedes Jahr also, soweit sich ein entsprechendes Fenster über Nacht bietet, wenn Wind und Wetter passen und meine Zeit es erlaubt, zieht es mich raus, um durch die kaum vorhandene Dunkelheit zu segeln.
Ohne ein Ziel vor Augen, jedoch mit dem Wunsch im Herzen, die untergehende Sonne irgendwo auf der Außenförde oder besser noch jenseits dieser genießen zu können, starte ich am Nachmittag bei gutem Wind und bin froh, endlich mal wieder richtig segeln zu können.
Findus rauscht nur so durchs Wasser und ich bin froh über die letzte Woche, die mein Boot an Land stand. Das glatte Unterwasserschiff und die dafür investierte Zeit und Arbeit zahlen sich nun voll und ganz aus und das Gefühl, genau jetzt und hier richtig zu sein, stellen sich wieder so ein, dass ich mich selbst als diejenige wahrnehme, die ich bin und die ich sein möchte.
Mein Schiff belohnt mich für die Streicheleinheiten, die es bekommen hat und zeigt mir wieder mal aufs Neue, was für ein tolles und eingespieltes Team wir beide sind. Wie richtig alles war und wie wichtig es ist, genau das zu leben, was in mir drin dieses Gefühl des Sein bestärkt.
Ich erreiche die Außenförde und Findus rennt voller Freude mit 6,7 Knoten vorbei an der Schwiegermutter und vorbei an diversen ähnlich großen Yachten, bis wir die offene Weite, die für mich hinter dem Kalkgrund beginnt, ausmachen. Hier wollen wir hin. Hier möchte ich sein. Den Blick nach vorn gerichtet, den Horizont vor Augen. Das dunkle Blau der See, das helle Blau des Himmels. Beide sind Meilen voneinander getrennt und doch, so scheint es, gehören sie zusammen und verschmelzen in der Ferne miteinander und werden Eins.
Es ist letztlich wohl sowas wie Projektion, doch ich finde, auch mein Boot und ich sind wie eins. Wir gehören zusammen, brauchen einander und wissen um die Stärken und Schwächen des jeweils anderen. Wir reden miteinander und hören dem jeweils anderen zu. Nicht immer verstehe ich auf Anhieb, was Findus mir hin und wieder sagen möchte, doch meine Liebe und Zuneigung sind tief und mein Wunsch, dass es auch meinem Boot gut geht, steht immer an oberster Stelle. Mein Boot ist dabei geduldig und weiß, dass auch wenn es mal etwas länger dauert, dass ich es am Ende immer verstehe. Denn wenn es Findus gut geht, dann geht es auch mir gut. Und wenn es uns beiden gut geht mit dem, was wir gemeinsam erleben, dann sind solche Tage und Nächte wie heute überhaupt erst möglich.
Der Kalkgrund liegt nun vor mir. Immer wieder zwingt mich ein innerer Wunsch hier vorbei zu segeln, wenn ich die Förde verlasse und auf die Ostsee und den Lillebælt treffe. Ich muss ihn kurz begrüßen, ihn ansehen und mit ihm sprechen. Ich weiß, dass das verrückt klingt, doch ist man in den Augen Außenstehender nicht grundsätzlich ein wenig verrückt sein, wenn man sein Leben versucht so zu leben, wie es einem selbst gut tut?
Ich mag das vorborgen Mächtige an diesem Turm. Seine Beständigkeit, mit der er still, jedoch voller Zuversicht tagein, tagaus hier steht und sich durch nichts aus der Ruhe zu bringen lassen scheint. Wind und Wellen trotzt er und ob Regen oder Sonnenschein, Hagel oder Schnee, Sturm oder Flaute, auf den Kalkgrund ist Verlass. Wie ein Anker in der Not, wie ein guter Freund, ein Wegweiser in der Dunkelheit ist er einfach immer da. Er schweigt, doch er ist da.
Der Wind ist gut, die Luft ist warm. Der Himmel verspricht einen schönen Abend und eine sternenklare Nacht. Kurz überlege ich, ob ich Richtung Südsee segle und dort nach Mitternacht festmache und ein paar Tage bleibe oder ob ich nicht doch lieber die Nacht zum Tage mache und erschöpft am frühen Morgen in den Heimathafen zurück kehre. Ich entscheide mich für die Nacht, denn ich möchte durchs kurze Dunkel segeln und nicht im Hafen stehen.
Ich ändere meinen Kurs nach Südwest und setze mein ungenaues Ziel auf die Küste vor dem Leuchtturm Falshöft. Mit raumen Wind fliegt Findus dahin, während ich mich nicht sattsehen kann an der Schönheit der Weite. Es mag sonderbar klingen, doch da, wo ich kein Land sehe, wo der Himmel so weit und das Meer so unendlich erscheint, dort spüre ich das Leben in mir. Und das Leben, so habe ich es kürzlich irgendwo gelesen, das Leben in einem bestimmt den Wert deines Selbst.
Vielleicht bin ich deshalb so gern hier, weil ich das Leben spüre und mir meines Wertes und meines Seins so klar und bewusst bin. Hier draußen liegt für mich das Wesentliche, das Eigentliche, das Lebendigsein. Eine innere Freiheit, die keine Grenzen kennt. Und während Findus zielstrebig den im Autopiloten eingegebenen Kurs folgt, kann ich mein Glück kaum fassen und genieße dieses überwältigende Gefühl.
Kann segeln jemals langweilig werden? Nein, lautet meine klare Antwort. Zumindest nicht für mich. Denn Langeweile kann nur empfinden, wer zur falschen Zeit am falschen Ort das Falsche tut. Langweilig ist, was ich nicht spüren kann, was mich nicht berührt und nicht wenigstens hier und da mit den Schwingungen meiner Frequenz übereinstimmt.
Der Wind frischt auf und Boote sind jetzt kaum noch unterwegs. Das Licht des Abends fesselt mich und ich spüre den Wunsch immer weiter zu segeln. Diesen Pfad nicht verlassen zu müssen und diesen Moment für immer zu leben. Soll ich noch weiter runter segeln? Vielleicht bis in die Schlei? Doch ich verwefe den Gedanken schnell wieder ohne weiter darüber nachzudenken und fahre eine Wende.
Was achterlich wie ein entspanntes Kinderspiel ist, wirkt in den ersten Sekunden am Wind erstmal ungewohnt. Die leichte Dünung kommt jetzt von vorn und wo Findus eben noch sanft getragen und im Rhythmus der Wellen gewiegt wurde, da springt er nun gegenan und teilt mit seinem spitzen Bug die Wassermassen. Die Gischt zu beiden Seiten spritzt empor und unzählige Wassertropfen tanzen in der Luft, bis sie sich im Anschluss schäumend wieder mit dem Meer verbinden. Der Wind ist konstant und die Bewegungen meines Schiffes sind kontinuierlich. Die Einstellungen der Segel und des Autopiloten angepasst, genieße ich die Kraft, mit der sich mein Boot seinen Weg bahnt.
Das Glücksgefühl, welches mich hier draußen begleitet, das Leben in mir, das so deutlich zu spüren ist und die Dankbarkeit, all jenes hier erleben zu dürfen, faszinieren mich. Wie schön es hier ist. So ruhig und friedlich.
Die Farben der sich neigenden Sonne tauchen die kleine Welt um mich herum jetzt ein in ein malerisches Bild. Vor mir strahlt das riesig gelbe Gestirn, das den blauen Himmel um sich herum in ein leuchtendes Orange verwandelt und den Küstenstreifen zehn Meilen vor mir unter sich scheibar schützend umarmt. Achterlich zeigt sich indes ein zart rosanes Pastell, was sich aus dem Meer am Horizont erhebt. Es ist nicht nur traumhaft schön, es ist einzigartig. So einzigartig wie jeder einzelne Sonnenuntergang, den ich erleben und beiwohnen darf.
Nichts ist gleich hier draußen und wer glaubt, eine Welle sei nur eine Welle von vielen oder ein Sonnenuntergang nur einer von täglichen, der liegt meiner Ansicht nach falsch. Denn wirklich nichts ist gleich hier draußen. Wer genau hinsieht und sich die Zeit und Muße nimmt wirklich zu sehen, was ihn umgibt, der sieht sie, die individuellen Unterschiede. In jeder Wolke, in jeder Welle, in der schäumenden Gischt, in den Farben und Formen, der Kraft und Intensität. Für die schnelllebige Hektik unserer Zeit ist es nur ein schnell vergänglicher Augenblick, doch für mich fühlt es sich an, wie ein ewiger und stiller Moment der nie enden soll.
Voller Harmonie wechseln die Bilder, die ich tief in mich aufnehme, ihre Farben und ihre Gestalt und ich fühle mich voll ganz als Teil dieses Bildes. Ich bin allein hier draußen. Freiwillig. Und Freiwilligkeit ist die Voraussetzung und die Grundlage dafür, diese durchweg positive Energie, die mich permanent durchströmt aufnehmen zu können. Es ist ein Wahnsinnsgefühl, das Leben auf diese Art zu spüren. Ein Gefühl, was mich hier draußen scheinbar unaufhörlich umgibt und ein Feuer im mir zum lodern bringt und so meine Lebenskraft neu etweckt.
Ich segle hin und her. Einfach gerade dort hin, wo der Himmel seine Farben verändert hat, während ich auf dem entgegengesetzten Kurs war. Ich passiere zum wiederholten Male den Kalkgrund und nun steht er in voller Beleuchtung da. Ein Lichtblick in der Dunkelheit. Wie eine Orientierung, wenn man vom eigenen Weg abzukommen droht. Ein Fels in der Brandung. Ich liebe diesen Leuchtturm einfach, doch ihm scheint meine Nähe nicht geheuer, denn sobald ich ihm zu nahe komme, sendet er ein surrendes Geräusch aus, was mich auf Abstand hält. Ich respektiere seinen Wunsch und lasse ihn bis zum nächsten Mal allein zurück.
Auch ich bleibe allein zurück. Unterwegs ist weit und breit niemand mehr. Keine Segel in der Dunkelheit, keine bewegten Lichter auf dem Wasser. Nichts. Es ist still. Auch der Wind hat etwas nachgelassen. Jedoch bietet er noch genug Druck, um mit über fünf Knoten voran zu kommen. Hier in der Sønderborger bugt ist die See ruhig geworden und statt zu springen gleitet Findus nun sacht durchs Wasser. Das Rauschen und Plätschern des am Rumpf vorbeiziehenden nassen Elements klingt so vertraut, dass ich vom bloßen Hören weiß, dass alles seinen gewohnten Gang geht und ich mich so voll und ganz der dunklen Schönheit um mich herum widmen kann.
Nachtwolken, auch noctilucent clouds oder kurz NLCs genannt, tauchen jetzt am Nordhimmel auf und ich kann mein Glück kaum fassen. Diese silbrig-weißen Wolken stehen nur in den Sommernächten um die Sommersonnenwende am Himmel und man bekommt sie nicht oft zu Gesicht. Diese Ansammlung von Eiskristallen befindet sich in über 80 km Höhe und sie erscheinen dann am klaren Himmel, wenn die Sonne 6 bis 16 Grad unter dem Horizont steht und sie gerade noch von ihr anstrahlt werden.
Mit ihnen habe ich in dieser Nacht nicht gerechnet und umso schöner und faszinierender empfinde ich ihr Erscheinen am Firmament. Hell und klar stehen sie dort umrahmt vom dunklen Nachthimmel. Sie wirken wie die Flügel eines Engels, der auf mich hinab sieht und seine Fittiche beschützend über mir ausbreitet. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich geborgen. Und ich fühle mich beinahe schwerelos vor Glück.
Ich kann meinen Blick nicht von ihnen nehmen, doch die Sankt Hans Feuer an der Küste Dänemarks kommen immer dichter und so wende ich mein Boot und segle nun erneut Kurs Südwest ins wahre Dunkel der Nacht.
Vor mir ist nichts. In weiter Ferne nur hier und da ein winziges Leuchten, was von einer der Tonnen in der Außenförde aufblinkt. Winzig sind diese Lichter für mich und als Segler in diesem Gebiet nicht wirklich relevant. Ich blicke mich um. Vor mir die Dunkelheit, hinter mir der schwache orangefarbene Lichtstreif der längst untergegangen Sonne und die jetzt immer schwächer werdenen Nachtwolken. Backbord voraus steht der Kalkgrund in seinem beleuchteten Kleid und links neben ihm hebt sich nun ein gigantischer rotorangener Mond aus dem Meer empor.
Was für ein Anblick, der mir beinahe den Atem raubt. Ich kann es kaum fassen. Ohne jegliche Erwartungen bin ich vor mehr als neun Stunden losgesegelt, schlicht mit dem Ziel die Nacht seglerisch zum Tage zu machen und belohnt werde ich mit derart wunderschönen Naturerlebnissen. Wie ein riesiger Feuerball steigt der Erdtrabant nun am schwarzen Horizont aus der Ostsee heraus und wandert immer höher. Es ist unbeschreiblich schön und mit dankbaren Worten spreche ich zu ihm.
Die Zeit verfliegt angesichts dieser einzigartigen Ereignisse wie im Fluge und es dauert nicht lange, da erscheint nordöstlich das erste zarte Orange der sich für den neuen Tag ankündigenden Sonne.
Bald wird diese Nacht unwiderruflich vorbei sein, doch die Bilder und Gefühle, die mit ihr einhergingen, werden in meiner Erinnerung nachhallen. Ich bin froh, dies hier alles genau so zu erleben. Das Segeln, mein Mut, diese Bilder auf See, mein wunderbares kleines Schiff und das Sein, was ich hier draußen spüre, das alles zusammen bedeutet mir einfach unendlich viel und ist eines der wertvollsten Geschenke, die ich mir selbst beschere.
Gegen halb sechs am Morgen fahre ich, nun vollkommen übermüdet und dennoch froh und mit einem überaus glücklichen und zufriedenem Gefühl in mir, Findus in seine Box im Heimathafen. Etwas über 70 Seemeilen liegen bei diesem Törn hinter mir und es ist somit mein bisher längster Schlag, den ich einhand gemacht habe. Die 15 Stunden auf See sind wie im Fluge vergangen und würden mir nicht die Augen in den nächsten Minuten zufallen und meine körperlichen Kräfte vor Erschöpfung schwinden, würde ich am liebsten noch weiter segeln wollen.
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