Seit Tagen ist es da, dieses freudige und vertraute Kribbeln, was mit einer tiefen und vertrauten Sehnsucht einhergeht. Da ist dieser Wunsch, diese innere Unruhe, dieses altbekannte Verlangen. Ein mich immer wieder aufsuchendes Gefühl, dem ich nur zu gern bereit bin nachzugeben. Ich will auf mein Schiff, will aufs Wasser, will die Segel setzen und mich für ein paar Stunden dem hingeben, was mich erfüllt mit Glück und Wohlgefühl.
Es ist Dezember geworden und der erste Schnee verzaubert seit ein paar Tagen alles um mich herum in eine fast schon märchenhafte weiße Winterlandschaft. Wunderschön sieht es aus und die Seltenheit dieses Anblicks lässt mich mein Verlangen zu segeln für kurze Zeit zurückstellen. Der umliegende Strand, nur wenige Autominuten entfernt, ist gesprenkelt mit zarten weißen Flocken und der ebenfalls nicht weit gelegene Wald am Rande der Stadt ist in eine dichte Schneedecke gehüllt. Ich nehme die seltenen Bilder die sich mir bieten fasziniert in mich auf und genieße diese seltene Stille abseits meines Bootes.
Doch heute muss ich zu meinem Schiff. Viel zu lange war ich nicht an Bord und habe bereits ein leicht schlechtes Gewissen, mich nicht genügend um Findus zu kümmern. Hin und her gerissen zwischen der Frage, ob es sinnvoll ist den Motor bei den niedrigen Temperaturen einzuwintern oder doch die zum Greifen nahe Option des baldigen Segelns in Betracht zu ziehen, habe ich die letzten Tage mehrmals die Temperatur im Inneren meines Schiffes via SMS abgefragt und bin so tagtäglich erneut zu dem Entschluss gekommen, dass die Hoffnung auf einen kurzen Törn auf der Flensburger Förde überwiegt und ich mein Schiff aktuell noch nicht winterbedingt stilllegen muss und werde.
Das Wasser in der Ostsee hat noch immer um die 6°C und im Hafen lag, sicherlich auch bedingt durch den Zufluss vom warmen Wasser seitens der Flensburger Brauerei, seit Beginn der Lufttemperaturen um und unter dem Gefrierpunkt noch kein Eis auf dem Wasser. Weiterhin sind die Tiefstwerte im Salon nicht unter Null Grad gegangen. Außerdem liegt der Salzgehalt des Wassers hier bei um die 2%, was bedeutet, dass der Gefrierpunkt leicht nach unten rutscht und eher bei ungefähr -1,5°C bis -2°C zu finden ist. Nein, das Einwintern war noch nicht nötig, doch meine Anwesenheit an Bord meines Schiffes, die ist es jetzt.
Auch Findus ist bedeckt von strahlend weißem Schnee und fast ist es, als würde ich seinen scheinbaren Winterschlaf stören, wenn ich nun an Bord gehe und ihn von den in der Sonne glitzernden Flocken befreie. Doch mein Schiff und ich würden einen wunderbaren Segeltag verpassen, wenn ich nur aufgrund der Seltenheit dieses Anblicks darauf verzichte und Findus jetzt nicht erwecke, um ein paar Stunden rauszufahren.
Bewaffnet mit Schaufel und Besen mache ich zuerst meinen Platz am Steg schneefrei um sicherer und ohne Rutschgefahr an und von Bord gelangen zu können. Anschließend fege ich die Lauffläche auf Findus‘ Backbordseite grob frei. Warm wird mir dabei und immer großräumiger werdend schaufle ich die weißen Massen über Bord. Das Cockpit jedoch soll frei sein. Hier den Schnee festzutreten und so Gefahr laufen auf der glatten Masse während eines Manövers zu stürzen wäre verhängnisvoll und letztlich auch unverantwortlich.
Doch jetzt überlege ich nicht mehr länger. Der restliche Schnee ist mir egal und ich werfe zackig die Maschine an. Das Drängen in mir nimmt zu. Ich muss los und reagiere nur noch. Der Motor ist sofort da und die Vorleinen im Nu an Bord. Ich ziehe mich aus der Box und fahre aus der Boxenreihe. Endlich. Endlich geht es raus. Die Erleichterung in meinem Herzen lässt dabei wie aus dem Nichts eine tonnenschwere Last von mir fallen.
Ich kann wieder da sein, wo ich ganz ich selber bin. Hier an Bord meines kleines Schiffes. Allein und zufrieden, erfüllt mit diesem einzigartigen Wohlgefühl im Bauch. Angekommen und richtig, ohne Wenn und Aber, ohne Rollenspiel und ohne Erwartungen.
Die Segel sind schnell gesetzt. Wir haben nur leichten Nordwind und Findus gleitet nur sachte durchs Wasser. Von achtern wärmt mich die Sonne und über mir strahlt der Himmel in feinstem Blau. Noch immer haftet Schnee am Liekschutz meines Vorsegels und auch das Deck trägt überwiegend noch immer sein weißes Winterkleid. Ich störe mich nicht daran und überlasse es der Sonne, dem Schnee eine feuchte Konsistenz einzuhauchen, bevor ich hier und da mit den Händen etwas Schnee über Bord werfe.
Wahrscheinlich erklären mich unzählige Menschen für vollkommen verrückt. Im Winter bei Temperaturen um den Nullpunkt herum zu segeln mutet vielleicht wirklich etwas seltsam an, doch für mich ist es absolut normal. Ich finde nichts komisches daran. Im Gegenteil, ich frage mich eher, warum es mir kaum jemand gleichtut. Doch so plötzlich wie mir dieser Gedanke gekommen ist, so schnell vergesse ich ihn auch wieder. Es ist nicht wichtig, was andere denken, tun oder meinen. Entscheidend ist doch nur, dass das, was ich gerade tue, mir und meinem Selbst guttut. Und das tut es.
Mir fällt es hin und wieder noch immer nicht ganz leicht, mich selbst stets in meinem wahren Selbst zu akzeptieren. Immer mal wieder falle in die altbekannte Matrix zurück und frage mich, ob ich nicht doch besser ein wenig mehr so oder so sein sollte. Immer mal wieder erwische ich mich dabei, mich selbst besonders mit anderen Frauen zu vergleichen. Doch an Tagen wie heute können mir all die anderen mit ihrem eigenen und durchaus interessanten und ereignisreichem Sein herzlichst gestohlen bleiben. Denn immer dann, wenn ich Gefahr laufe erneut ins Unbewusste abzudriften und mich selbst verlieren zu können, hilft mir Findus zurück ins Gleichgewicht, in meine innere Mitte und zu meinem eigentlichen Kern zu kommen.
Der Schnee taut nur langsam, doch der Tag ist kurz. Es wird nicht lange dauern, bis die Sonne für heute erneut an Kraft verliert und die nahende Kälte die Feuchtigkeit abermals zu Eis gefrieren lässt. Stück für Stück befreie ich mein Schiff nun weiter von der mittlerweile pappigen Schneeschicht und schippe sie wieder und wieder über Bord, bevor sie ihren Aggregatszustand plötzlich wieder ändert. Dabei genieße ich mein Tun und bin froh, über diesen wunderschönen Tag.
Ein bisschen Wind kommt auf und nun scheint auch Findus nach anfänglichem Zögern und etwas Zurückhaltung wieder in seinem Element anzukommen. Mit vier Knoten geht es nun voran und eigentlich möchte ich jetzt weiter. Außenförde, Belt, Norden. Realistisch betrachtet wird es jedoch Zeit umzudrehen. Die Sonne steht bereits tief und graue Wolken mischen sich nun in den eben noch strahlend blauen Himmel. Es hilft nicht, ich muss zurück.
Es ist deutlich kühler jetzt und wo mir eben noch fast ein wenig warm war, durchdringt mich nun die Frische des Winters. Minusgrade machen sich breit und erste feuchte Bereiche an Deck gefrieren erneut zu zartem Eis und lassen einzelne Stellen an Deck durchaus rutschig zurück.
Mein Schiff ist klein. Egal wie ich mich bewege, wo ich an Deck laufe oder arbeite, immer kann ich mich irgendwo sicher festhalten. Ich kenne mein Boot und greife blind nach Wanten und Stagen. Ich kenne Beschläge und Schienen und weiß, wo mein Halt unsicher und bei diesen Bedingungen rutschig ist. Kleine Boote haben durchaus Vorteile und diese weiß ich an Tagen wie heute nur zu gut zu schätzen.
Ein weiteres Boot ist auf der Flensburger Förde unterwegs. Vor geraumer Zeit ist es in der Ferne aufgetaucht und unter Maschine schnell dichter gekommen, bevor es ebenfalls die Segel gesetzt hat und das Wetter nutzt. Die Hallberg Rassy 31 segelt nun achteraus auf gleichem Kurs nordwestlich. Ich werde ihren Kurs kreuzen müssen, wenn ich jetzt wende um umzudrehen, doch immerhin habe ich dann den Wind von steuerbord und kann meinen Kurs halten, während sie leicht nach steuerbord ausweichen muss. Zwei Personen grüßen freundlich, doch ohne Brille erkenne ich nur Menschen, nicht jedoch die Personen in ihnen. Kurz darauf erreicht mich per WhatsApp ein Bild von Findus in Fahrt. Es war ein alter Bekannter, von dem ich zweieinhalb nichts gehört habe. Ein Segelverrückter, der viel unterwegs ist und ich freue mich darüber, dass er mich mit meinem Schiff erkannt und jetzt an mich gedacht hat. Einen schönen Törn wünsche ich dir noch.
Alte Erinnerungen werden nun wach. Erinnerungen an eine unsichere Zeit mit wenig Perspektive. Doch heute muss ich lächeln bei dem Gedanken an damals. All das ist überwunden und die Schwierigkeiten und Sorgen von einst sind heute nur noch Schall und Rauch. Ein breites Grinsen breitet sich in meinem Gesicht aus und ich spüre erneut diese aufkeimende Zufriedenheit. Ich bin. Und ich weiß, ich bin auf dem richtigen Weg. Ich lasse mich leiten von meinem Gefühl und bin bewusst ich selbst. Denn ich glaube fest daran, nur als ich selbst, ohne gespielte Rollen und ohne all den Ballast der nicht wirklich zu mir gehört, kann ich wirklich glücklich sein und mich selbst lieben und achten.
Der Wind lässt jetzt erneut nach. Eine zeitlang segle ich noch langsam um die Ochseninseln herum und erfreue mich am winterlichen Anblick der Landschaft. Es erinnert mich an meine Träume und weit entfernten Ziele. So ähnlich könnte es vielleicht aussehen, wenn ich jetzt oben in Norwegen sein könnte.
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