20. November 2023
Durch den Nebel der Unsicherheit

Ich liebe die Wintersaison an Bord. Auch wenn sie meist kalt und trüb daher kommt und ihre Tage durch Anbruch der zeitigen Dunkelheit nur von kurzer Dauer sind, so birgt sie auf dem Wasser dennoch jedes Jahr aufs Neue ihren ganz eigenen und durchaus besonderen Charme.

Der Hafen ist mittlerweile, wie eigentlich in jedem Herbst und Winter, weitesgehend vereinsamt und zumindest an „meinem“ Steg trifft man nur noch äußerst selten auf eine verwandte Seele, die sich ihrem Boot trotz der feuchten und verdammt rutschigen Steganlage nähert. Die meiste Zeit bin ich hier jetzt allein. Für mich ist dies eine ganz besondere Atmosphäre und manchmal mag ich sie sogar weitaus lieber, wie die wuselige und geschäftige Zeit während der Hochsaison in den warmen Sommermonaten.

Es ist still im Hafen. Einfach vollkommenen still. Ich höre keine lärmenden Geräusche seitens der Promenade und keine Stimmen aus Richtung des im Hafen ansässigen Bistros. Auch kein Lachen und keine Gespräche schallen von den Nachbarbooten, die in der kalten Jahreszeit oft nur zum Überwintern hier abgestellt und dann für vier oder fünf Monate sich selbst überlassen sind, herüber. Die Eigner der Winterlieger kenne ich nur selten. Oft sind es keine Ortsansässigen und sie haben nur wenig Zeit und lange Anfahrtswege, weshalb man sich, wenn überhaupt, im Winter nur per Zufall begegnet. Mich stört das jedoch nicht, denn so genieße ich einfach die stille Seite meines Heimathafens und vorallem mein Sein an Bord meines kleinen Schiffes ganz intensiv.

Durch eine glückliche Fügung bin ich vor einiger Zeit im Rahmen einer beruflichen Neuorientierung an die wunderbare Möglichkeit geraten, bei einem Charterstützpunkt mitwirken und so meinen Erfahrungshorizont enorm erweitern zu können.

In den letzten Wochen blieb so also wenig Zeit für mein Schiff, denn statt auf eigenem Kiel die Flensburger Förde zu durchkreuzen, konnte ich Charteryachten vom Stützpunkt ins Winterlager überführen und neben Unterwasserschiffe mit Antifouling bearbeiten auch die Kranarbeiten und das Mastlegen begleiten. Was für eine grandiose Möglichkeit so auch andere Yachten, ihr Verhalten, ihre Kraft und ihre Manövrierbarkeit kennenzulernen. Sie zu berühren, zu verstehen und ihnen nahe zu sein. Denn allein schon die Tatsache, dass es Schiffe sind, rechtfertigt es in meinen Augen, sich zu ihnen hingezogen zu fühlen. Jetzt stehen sie jedoch alle Land und um die Tätigkeit mit ihnen ist es ruhig geworden.

Ob es jetzt eine Jeanneau Sun Odyssey 30i, eine Bavaria 31 oder eine Beneteau Oceanis 31 oder 34 war, die ich zum Winterlager bringen konnte oder irgendeine andere Yacht, die ich im Rahmen meines Nebenjobs bisher kennengelernt habe, keines dieser Schiffe lässt sich auch nur im Geringsten mit meiner kleinen und alten Polaris Drabant 26 vergleichen.

Die modernen Yachten verfügen sicherlich über weit mehr Power, Kraft und Comfort. Mit ihren starken Motoren lässt es sich ganz anders manövrieren und ob es nun der Kühlschrank an Bord ist, die separate Toilette oder das fließend warme Wasser im Bad, ob es die verschließbaren Kojen im Vorschiff oder achtern sind oder einfach der großzügige Platz im Salon, nichts davon würde ich je gegen mein Boot eintauschen wollen. All diese Schiffe haben ganz klar ihre volle Daseinsberechtigung und es gibt mit Sicherheit Menschen, leidenschaftliche Segler, die sich ihrer nicht entziehen können, doch meine Liebe gehört einzig meinem kleinen Findus.

Ohne nennenswerten Wind geht es heute aus dem Hafen. Doch das ist mir egal. Ich muss einfach mal wieder mit meinem Boot raus. Muss das Echte spüren. Das Wahre. Das Sein. Es ist nicht ausschließlich das Segeln, was mich mir selbst immer wieder nah sein lässt, es ist das Alleinsein mit mir auf dem Wasser und gleichzeitig die Verbindung zu meinem Schiff. Es ist die Stille hier draußen, das Spüren, das Lebendigsein. Es ist die See, selbst hier in der menschen- und booteleeren und zu allen Seiten begrenzten Innenförde, die mir von ihrer gigantischen Kraft und Energie genau das abgibt, was mich erfüllt und bestärkt, wenn eine unangenehme Leere und Unsicherheit sich versucht einen Platz in mir zu erschleichen. Die Stille der See ist es, nach der es heute in mir verlangt und der ich mich jetzt voll und ganz widme.

Mich erneut fokussieren und mir meines Weges klar werden steht heute auf der Agenda. Mir meine eigenen Entscheidungen bestätigen, bevor mich wohlmöglich noch unbewusste Zweifel zum Umkehren bewegen. Doch Nein! Mein Weg steht. Gerade und ohne Umwege werde ich mit Sicherheit nicht erreichen, was mich antreibt, doch eine Umkehr wird es nicht mehr geben. Ich gehe voran. Auch wenn ich hin und wieder mein Ziel aus den Augen verliere, so gehe ich doch weiter und nehme auch den einen oder anderen Umweg in Kauf, der mich mit seinen unscheinbaren Stolpersteinen nicht selten aus dem Gleichgewicht bringt.

Die Förde liegt still und ruhig da und in ihr spiegeln sich die Wolken, die es nur lückenhaft einem spärlichem Blau erlauben seine Farbintensivität zu zeigen. Von Nordosten her zieht bereits dichter Nebel auf. Eine dichte Walze rollt grau und schwer auf dem spiegelglatten Wasser direkt auf mich zu. Ein wenig unheimlich sieht es aus, doch zugleich ist es wunderschön. Die weißen Nebelschwaden kriechen langsam und geräuschlos über die bewaldeten Küsten zu beiden Seiten der Förde und hüllen alles ein, was sich ihnen in den Weg stellt. Es dauert nicht lange, da ist auch Flensburg hinter mir im Nebel verschwunden.

Bevor der Schleier mich erreicht gucke ich mich nochmal zu allen Seiten um. Gleich werde ich nicht mehr viel sehen können und ich will mir zuvor noch einen Überblick verschaffen. Doch es ist niemand in der Nähe. Es hätte mich ehrlich gesagt auch ziemlich gewundert weitere Freizeitskipper bei diesem Wetter anzutreffen. Mein AIS sendet und empfängt derweil und in einer Entfernung von rund drei Meilen sehe ich, dass ein Arbeitsboot ohne Fahrt durchs Wasser an der deutschen Küste zugange ist. Es ist zu weit entfernt, als dass ich mir hier und jetzt Gedanken machen müsste. Wir senden beide unsere Signale und sind somit auf der sicheren Seite. Ich bin ohnehin der Ansicht, jedes Boot sollte entsprechend ausgestattet sein. Bei Nacht und wie hier im Nebel macht es meiner Meinung nach Sinn auf frühzeitiges Sehen und Gesehen werden zu setzen. Die kleinen Positionslichter, die ich bei meinem Schiff nun auch in Betrieb genommen habe, empfinde ich persönlich an den meisten Schiffen viel zu klein und zu schwach und deutlich erkennen kann man sie, wie ich finde, ohnehin erst viel zu spät. Dennoch habe ich sie an. „Dienst nach Vorschrift“, könnte man das nennen.

Die Sicht zum Ufer wird immer geringer und es dauert nicht lange, bis ich mich im dichten Nebelfeld wiederfinde. Es ist schön und gespenstisch zugleich. Eine gedämpfte Stille umgibt mich jetzt und durch das eingeschränkte Blickfeld merke ich, wie sich meine Wahrnehmung im Bereich des Hörens verändert. Ich lausche viel intensiver auf die Geräusche, die mich nun umgeben und spüre auch mein eigenes Sein nochmal ganz anders. Der winzige Hauch einer Vorstellung, was so eine Sicht mit der dahergehenden Atmosphäre bei Flaute und ohne Maschinenkraft auf hoher See in den Köpfen der Seeleute vor hunderten von Jahren anzurichten fähig war, kommt mir in den Sinn. Was war das, was dort im Nebel pitschert? Ein springender Fisch? Eine kleine sich brechende Welle? Oder wohlmöglich doch eine geisterhafte Gestalt aus den Tiefen der Meere? Und was ist das für ein Schatten der dort vorn auf mich zukommt? Land? Ein Schiff? Ein Ungeheuer? Oder doch nur der dichte und gestauchte Nebel der feucht und kühl über das Wasser schwebt? Ich liebe diese Gedanken. Sie regen meine Fantasie und Vorstellungskraft an und lassen mich für kurze Zeit eintauchen in die Abenteuer aus längst vergangenen Zeiten.

Zurück bei meinen eigenen Gedanken, bei meinen persönlichen Zielen und leider auch oft von außen hervorgehoben und forcierten Zweifeln, sehe ich jetzt Parallelen zu meiner Situation im Nebel. Nicht immer ist klar zu erkennen was vor mir liegt. Nicht immer kann ich vorausschauen auf das, was mich erwartet. Doch darf ich mich nicht von Unsicherheit leiten lassen. Darf nicht der Angst vor dem Unbekannten zu viel Raum und Beachtung schenken.

Nein. Auch wenn man hin und wieder Gefahr läuft, sein Ziel für den Moment aus den Augen zu verlieren, so sollte man dennoch nicht klein beigeben und auch nicht umkehren, nur weil man gerade mal nicht sehen kann, was hinter dem Vorhang auf einen wartet. Das Beste liegt immer vor einem, da bin ich sicher. Den es ist das Leben, was vor mir liegt und ein jeder hat es in der Hand, seinen eigenen Kurs des Lebens jederzeit in eine neue Kurslinie zu bringen und so bestimmen, wer und was seinen Weg begleitet.

Der Wind frischt jetzt leicht auf und Findus läuft seine entspannten vier Knoten Fahrt. Die Sichtweite beträgt noch immer unter 500 Meter, doch schemenhaft erkenne ich noch das nur 0,2 Seemeilen entfernte Land, was recht voraus liegt. Bei aller Abenteuerlust und Fantasie bin ich allerdings doch froh über die modernen Möglichkeiten in der einfachen Navigation. GPS, AIS, elektronische Seekarten. Die alten Geschichten längst vergangener Zeiten leben nur noch peripher in meinen Kopf und ein Blick auf mein mit AIS verbundenen Tablet zeigt, dass ich dem vormals drei Meilen entfernten Arbeitsschiff jetzt doch recht nahe gekommen bin. Der Nebel lichtet sich jetzt genauso leise wie er gekommen ist und durch mein Fernglas kann ich jetzt sehen, was eben noch unsichtbar erschien.

Ich lehne mich zurück. Die Sicht wechselt von neblig auf diesig und mein kleines Abenteuer neigt sich so dem Ende zu. Ich lasse mich die nächsten paar Meilen nur noch entspannt treiben und spüre dabei, dass ich wieder da bin, wo ich heute hin wollte. Bei mir.

Der Wind ist jetzt wieder eingeschlafen und ich berge die Segel. Die Sonne schafft es heute nicht mehr, sich einen konstanten Weg durch die trübe Wolkendecke zu bahnen, doch ein kurzes „Hallo“ lässt sie sich dennoch nicht nehmen. Sie ist noch da, mit all ihrer Kraft, auch wenn sie hin und wieder verborgen bleibt und wahrscheinlich nur auf den richtigen Moment wartet, um wieder in vollem Glanz zu scheinen.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Abonniere meinen Blog

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten.

Wir halten deine Daten privat und teilen sie nur mit Dritten, die diesen Dienst ermöglichen.

Archiv