3. September 2023
Erkaufte Freiheit

Manchmal werde ich gefragt, ob es nicht langweilig ist, so allein auf dem Boot zu sein, mit niemandem zum Reden und mit nichts, was mich umgibt. So ganz allein da draußen und kein Land in Sicht. Ein fragendes und unsicheres Unverständnis strahlt mir häufig entgegen und ich suche für einen kurzen Moment nach den richtigen Worten, die auch nur annähernd beschreiben könnten, was es da draußen mit mir macht, wenn ich allein auf meinem kleinen Boot, getragen von Wind und Wellen unterwegs bin. Doch ich merke dann auch wieder ganz schnell, dass es keine Worte gibt für das, was ich empfinde. Was ich am Segeln so sehr liebe, was ich so sehr schätze und was es mit mir macht, lässt sich einfach nicht in Worte fassen, denn es ist ein Gefühl. Und Gefühle sind so individuell, dass sie sich nie so exakt beschreiben lassen, wie sie gefühlt werden. Doch neulich sah ich einen Film über zwei Segler, in dem es kurz um genau diese Frage ging. „Warum tust du es?“, fragte die Protagonistin und der Blick des Protagonisten tauchte ab in seine eigene Welt: „Das ist ein Gefühl.“, sagt er mit leiser Stimme und einem Blick, der weit weg auf See zu sein schien. „Man kann es kaum beschreiben. Es ist ganz intensiv. Der unendliche Horizont. Und nach ein paar Tagen fühle ich mich wie neu geboren. Da ist nichts außer dir, dem Wind und dem Geräusch, wenn das Boot durch die Welle gleitet „

Ja, genau so ist es. Wie neu geboren. Frei. Frei und unverfälscht. Frei von all dem Ballast, der von außen in mich hineingetragen wurde. Frei von all den widersprüchlichen und wahrheitsverzerrenden Konditionierungen und frei von gespielten und angepassten Rollen, die gesellschaftlich erwartet werden und mich nicht sein lassen. Da draußen jedoch kann ich einfach sein. Rein. Pur. Unverfälscht. Dort kann ich alles Ablegen, was wie ein Panzer, wie eine erdrückende Rüstung, mein eigentliches Selbst umgibt. Das ist es, was ich Freiheit nenne. Frei bei mir selbst anzukommen. Frei zu Sein. Frei selbstbestimmt zu sein.

An Land fühle ich mich falsch, so als gehöre ich hier einfach nicht her. Das Land ist verwoben mit all den auferlegten Rollen und Konditionierungen und Unverständnis hallt mir vielerorts entgegen, wenn ich versuche Erklärungen zu finden. Die Erwartungen im Außen sind hoch und folgen immer dem selben Muster. Sie sind letztlich nichts anderes, als sich anpassen zu müssen und zu funktionieren. Ein Untergehen in einer gesichtslosen Masse. Individualität scheint offenbar eben nur erwünscht, solange sie dem Mainstream angepasst ist. Doch den eigenen Horizont zu erweitern und wider jeglichem erlernten Reflex durch schlichte Akzeptanz eben genau diese Individualität zu bejahen, dazu sind auch jene nicht immer bereit, die von sich selbst behaupten, tolerant und aufgeschlossen zu sein. Auf all meine Erklärungsversuche folgt stets ein konträres Aber und ich fühle mich allein mit mir und meinem Gefühl.

Ich lebe für die kostbaren und viel zu kurzen Momente, in denen ich bin und die übrige Zeit funktioniere ich, um mir mein Sein überhaupt in irgendeiner Form leisten zu können. Kurzum, ich erkaufe mir meine Freiheit des Seins, indem ich mich anpasse und mich dabei selbst verleugne. Doch ich habe, wie so viele andere auch, keine andere Wahl und meine Gedanken finden nur wenig Gehör. Allzu oft ernte ich abwertende Sätze wie: „Na und, da müssen wir alle durch“, „So ist das nunmal“ oder „Übertreibe doch nicht so, anderen geht es viel schlechter wie dir“. Beliebt ist auch ein oberflächliches „Dann ändere doch was“ oder „Nimm es wie es kommt und mach das Beste daraus“. Doch das versuche ich bereits seit Jahrzehnten immer wieder. Ankommen bei mir selbst tue ich dabei jedoch nicht wirklich. Nicht hier an Land. Ein erhofftes Verständnis gleicht immer wieder einer Fehlanzeige, stattdessen wächst der unterschwellige Vorwurf von Egoismus und Luxusproblemen. Ist der Wunsch nach mir selbst also egoistisch? Ist es ein Luxusproblem einfach sein zu wollen?

Nicht selten sprechen Außenstehende von einem Hobby, wenn ich übers Segeln erzähle. Für viele mag es auch genau das sein. Eine nette Auszeit vom Alltag, das Boot als eine Art Ferienwohnung auf dem Wasser. Hier und da gar teuer gekauft und nach anfänglichem Enthusiasmus vergessen und unbeachtet im Hafen zurück gelassen, um sich weiteren Interessen zu widmen. Oder eine gut ausgestattete Yacht zu horrenden Preisen gechartet, nur zum Spaß, jedoch ohne Liebe, Verantwortung und Pflege für das schwimmende kurzzeit Refugium zu übernehmen. Ich kritisiere dabei nicht, um Gottes Willen. Nein, jeder hat seine persönlichen Gründe zu tun, was er nunmal tut und ich weiß natürlich auch, es gibt auch jene da draußen, die ähnlich fühlen wie ich und sich selbst nur da draußen auf dem Meer richtigen spüren.  Ich respektiere euch alle, aus welchem Grund auch immer ihr euch aufs Wasser begebt. Doch bitte, versteht auch mich.

Es ist spät geworden und ich kehre um. Wie so oft, wenn ich gerade spüre einmal mehr wieder bei mir angekommen zu sein. Doch meine Rollen müssen gespielt werden. Das einschnürende Korsett samt Maske wartet an Land und verlangt nach einer erneuten Vorstellung. Die nötigen Mittel müssen verdient werden, um mir mein Sein auch weiterhin leisten zu können. Doch wie lange werde ich das noch können? Meine persönliche finanzielle Lage wird nicht besser, die Möglichkeiten aufgrund von vorausgegangen Fehlentscheidungen gering und die Aussichten auf Besserung sind schlecht. Unwillkürlich zischt ein Gedanke durch meinen Kopf. Haben künftig nur noch Wohlhabende das Privileg des Seins, weil sie über genügend Mittel verfügen, sich ihre Freiheit erkaufen zu können?

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