Jetzt ist die Wintersaison wirklich eröffnet. Nachdem seit Wochen bereits sämtliche Stegnachbarn an Land verschwunden sind ist es ruhig am Steg geworden. Es ist keiner mehr da zum Quatschen. Keiner, der nach einem Feierabendtörn auf ein Bier rüber kommt. Und auch keiner, der Lust hat, einfach ein paar Stunden bei um die null Grad zu segeln.
Gegen Mittag treibt es mich zum Hafen. Das Wetter ist gut. Blauer Himmel und Sonne. Dass es arschkalt ist, merke ich gar nicht. Das Thermometer zeigt null Grad an. Mein Boot ist gefroren. Über Nacht haben sich einige Schneeflocken an Deck niedergelassen und die Kälte hat sie prompt gefrieren lassen. Steuerbord scheint die Sonne und ich bekomme das Schnee- und Eisgemisch gut weg. An Backbord sieht das schon anders aus. Schatten. Kälte. Es ist nichts zu machen. Auch die Heizung unter Deck bewirkt nur punktuell ein wenig freie Fläche.
Doch wie war das damals mal in der Schule? Gefriepunkte haben unterschiedliche Temperaturen. Süßwasser gefriert eher wie Salzwasser. Schneeflocken sind Süßwasser und um mich herum habe ich Salzwasser. Mit meiner Pütz schöpfe ich also das salzige Nass an Bord und schütte es wieder und wieder über Deck. Es funktioniert. Das Eis an Deck schmilzt.
Im Cockpit arbeitet die Sonne für mich. Sie strahlt warm herab und lässt die gefrorenen Flocken zu Wasser werden. Es dauert nicht lange und ich kann den Motor starten und ablegen. Endlich. Endlich wieder ein paar Stunden das Leben spüren. Ein paar Stunden fühlen. Ein paar Stunden sein.
Kaum einer ist unterwegs. Nur vier weitere Boote tummeln sich heute auf der Flensburger Innenförde. Weit genug sind sie entfernt. Ich sehe niemanden. Muss nicht ausweichen und mir kommt auch keiner in die Quere. Ich liebe das Wintersegeln. Auch wenn ich tendenziell weniger Zeit auf dem Wasser verbringen kann, so habe ich doch um einiges mehr Ruhe.
Der Wind ist frisch, doch angemessene Kleidung lässt mich die Kälte kaum spüren. Schick geht sicherlich anders, doch an Bord brauche ich kein Schick. Hier zählt das Sein. Das Wohlfühlen. Das Echte. Hier bin ich. Hier darf ich sein. Deshalb liebe ich es, auf meinem kleinen Boot unterwegs zu sein. Keiner erwartet etwas. Keiner fordert. Keiner verlangt. Freiheit. Meine kleine und ganz persönliche Freiheit.
Ich liebe das Segeln im Winter. Die Förde ist nahezu leer, der Kurs ist ohne Ziel und obendrein auch vollkommen egal. Ich kreuze einfach vor mich hin und lasse die Zeit verstreichen. Für kurze Zeit vergesse ich alles um mich herum. All die Sorgen, die persönlichen Ängste und die kleinen Dämonen, die sich immer wieder versuchen in meine Gedanken zu schleichen. Hier draußen sind sie fast vergessen und ich genieße die Stille.
Nach acht Meilen muss ich langsam umkehren und kreuze im Grunde meinen alten Kurs zurück. Dieses Mal vor dem Wind. Dabei segle ich der Sonne entgegen. Mittlerweile ist keiner der anderen vier Segler mehr zu sehen und ich habe die gesamte Innenförde für mich allein.
Wo sind sie bloß alle, frage ich mich? All die Boote, die noch im Wasser sind. Sie stehen in den meisten Fällen lieblos abgestellt im Hafen. Kaum einer bringt sein Boot zum Überwintern in unseren Hafen, um dann auch segeln zu können. Nein. Der größte Teil nutzt lediglich die kostengünstige Alternative auf Wasser zu überwintern und kümmert sich die kalten Wochen und Monate über nicht wirklich um sein Schiff. Schlagende Fallen, ungefierte Leinen bei Hochwasser und längst vergessene Dannobrogs unter der Steuerbordsaling zeugen davon, dass der Eigner kein echtes Interesse an seinem Boot hegen kann. Nicht selten frage ich mich, was den Eignern ihr Boot überhaupt bedeutet. Ist es nur ein Statussymbol? Eine Möglichkeit mitreden zu können? Oder einfach eine fixe Idee, die schnell abgenutzt und derer man nun überdrüssig ist?
Ich darf nicht darüber nachdenken, denn letztlich ist es auch egal. Es gibt wohl nur zwei Sorten Eigner. Jene, die sich kümmern, zu Land oder zu Wasser, und die anderen, denen ihr Schiff egal zu sein scheint. Ich lasse derartige Gedanken schnell vorbei ziehen, noch bevor ich in Versuchung komme, sie in irgendeiner Form wertend und ohne jede Kenntnis über die jeweiligen Gründe zu vertiefen. Stattdessen besinne ich mich wieder auf mich.
Ich atme. Tief. Bewusst. Intensiv. Ich lebe. Und ich liebe. Ich liebe das Hier und Jetzt. Ich liebe diesen Moment. Auch die nach vier Stunden kalten Fingerspitzen und die schweren Klamotten, die mich trotz der Kälte warm halten. Ich liebe die kühle Atmosphäre und die Farben des Winters. Das Licht ist so anders. So klar. So frisch. So intensiv.
Findus rauscht derweil gemütlich gen Süden. Klingt irgendwie komisch. Flensburg liegt im Norden Deutschlands und doch segle ich südlich, wenn ich von der Förde in meinen Heimathafen möchte. Doch so ist es nunmal. Die Sonne steht tief und ich erhasche ihre letzten wohligen Strahlen, bevor sie früh hinter dem Wald, der Werft und der Stadt verschwindet.
Ich kehre kurz um. Nehme die Segel runter und erfreue mich für heute ein letztes Mal an allem, was mich umgibt. Vier Stunden war ich draußen. Vier Stunden Glückseligkeit. Vier Stunden nur mein Boot und ich. Was für ein immenses Glück.
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