8. Februar 2023
Es war einmal…

So beginnen sie doch, die Geschichten aus alten Zeiten. Oft nur Erinnerungsfetzen, kleine Annekdoten oder längst vergessen Geglaubtes kommt von Zeit zu Zeit zurück und heute möchte es hier erzählt werden.

Es war einmal ein kleines Mädchen, dessen Vater als Maschinist auf einem weißen Containerschiff zur See fuhr. Er hatte die ganze Welt gesehen und erzählte daheim von seinen Reisen und von fernen Ländern. Er sprach vom Kap Hoorn, dem Kap der guten Hoffnung und der Barentssee, vom Panamakanal und dem Kreuz des Südens. Er war viel unterwegs und immer wenn es passte, war das kleine Mädchen mit an Bord des riesigen Schiffes. Sie wuchs auf mit Wind und Wellen und mit dem Geruch von Schiffsdiesel, den sie bis heute in der Nase hat. Sie mochte es, wenn das Schiff zu tanzen begann. Wenn es rollte und stampfte. Angst hatte sie dabei keine. Die Gerda Graebe war ihr zweites Zuhause und die Matrosen an Bord waren wie eine große Familie. Sie fühlte sich sicher und geborgen und sie begleitete ihren Vater auf den Meeren zwischen Finnland und Frankreich. Sie war stolz die Tochter eines Seemanns zu sein. Schiffe bedeuteten ihr viel und dieses Gefühl, was die See ihr vermittelte, war etwas ganz besonderes.

Heute erinnere ich gern zurück an die Zeit auf See. An den Matrosen Ludo, der mir mein erstes Fahrrad mitbrachte. Oder an die zwei Singhalesen, die mir eine Hängematte an Deck aufhängten, aus der ich promt herausgefallen bin. Auch an Robie, der mir eine schwarze Stoffkatze schenke, die seinen Namen trug. Ich erinnere mich daran, dass er freiwillig über Bord ging und zuvor noch seine gelben Gummistiefel ordentlich ans Schanzkleid stellte. Er wurde nie gefunden. Ich weiß noch von der Kuh, die vorne am Bug so fürchterlich brüllte und mich in schierer Panik nach achtern rennen ließ. Heute weiß ich, es war der Kapitän, der mich durch den Lautsprecher mit diesem unheimlichen „Muuuhhh“ abschreckte, damit ich nicht allein nach vorne ging. Ich erinnete mich, wie die Maschine ausfiel und unser Schiff zum Spielball der Wellen wurde. Es war das einzige Mal, dass mich doch die Angst an Bord überkam. Es war tiefschwarze Nacht, das Schiff rollte unkontrolliert hin und her und die Trossen der Schlepper ruckten fürchterlich. Anschließend lagen wir in La Rochelle im Trockendock und dort verlor ich meinen bunten Flummi. Wir haben unterm Schiff noch nach ihm gesucht, doch er blieb für immer verloren. Ich wusste damals nicht, dass dies meine letzte Reise mit der Gerda Graebe gewesen sein sollte.

Am Land wurde von nun an alles anders. Ich kam zur Schule und mein Vater fuhr nicht mehr zur See. Er gab seine große Liebe, die das weite Meer war, für immer auf und veränderte sich zusehens. Eine unbändige Sehnsucht fraß ihn auf und der Alkohol ertränkte auch das letzte Licht in ihm. Ich verdrängte die Seefahrt mehr und mehr und nur nachts suchte die alte Gerda mich hin und wieder auf. Unzählige Male träumte ich denselben Traum. Ich sah das Schiff vor mir, wie es durch einen dunklen und engen Kanal fährt. Sie waren alle an Bord, doch mich hatten sie zurückgelassen. Träume sind wirr, denn auf Bohlen nur knapp unter der Wasseroberfläche renne ich dem Schiff hinterher. Aus meiner Perspektive heraus ist es riesig. Ich schreie, ich springe, ich renne. Doch ich erreiche das Schiff nicht. Die Gerda Graebe fährt ohne mich davon. In meiner panischen Angst rutsche ich ab von den Bohlen unter dem Wasser und ertrinke. Immer wieder. Bis ich nicht mehr schweißgebadet aufwachte und der Traum mir keine Angst mehr machte. Ich vergaß die See und verdrängte alles, was mich daran erinnerte. Es fühlte sich nicht mehr gut an und nur mein mir mittlerweile fremder und stets betrunkener Vater erinnerte noch an die Zeit auf See, wenn er mal wieder weinend Freddy Quinn und Hans Albers hörte.

Doch es war nie wirklich weg. Es hatte nur einen anderen, einen bitteren und faden Beigeschmack bekommen, den ich nicht an mich heranlasssen wollte. Die Jahre vergingen. Familie, Kinder und ein solides Leben im Eigenheim einer gutbürgerlichen Kleinstadt wurden zum Lebensinhalt. Doch die See ließ mich nie wirklich los.

Der Knoten in meinem Kopf begann sich erst Jahre später zu lösen, als mit einer neuen Generation von Seemannsmusik all die unangenehmen Erinnerungen verblichen und ich mein Herz wieder in der Lage war zu öffnen. Ich ahnte damals noch nicht, wohin meine bevorstehende Reise mich führen sollte.

Zehn Jahre ist das nun her und immer wieder zaubert es mir ein Lächeln ins Gesicht, wenn ich an die Schlüsselnmomente zurück denke, die mich seinerzeit, noch unwissend über mich selbst, auf meinem Weg motiviert haben. Ich denke an die Menschen, die ich seitdem kennenlernen durfte, die mir Vorbild waren, mir halfen und die mich inspiriert und begeistert haben und die mich nun seit langer Zeit begleiten. Ich danke euch allen. Ihr wisst, dass ihr gemeint seit.

Meine Entscheidung und letztlich auch mein Boot haben mir wieder zu dem Menschen verholfen, der ich damals als kleines Mädchen war. Neugierig auf die Welt, glücklich im Herzen und eins mit mir selbst. Es ist das innere Gefühl, das wahre Ankommen. Ich bin und heute ist Findus mein emotionales Zuhause, so wie es einst die Gerda Graebe gewesen ist. Es sind die Erinnerungen, die schönen und schmerzlichen, die mich bewusst und unbewusst an das Hier und Jetzt geführt haben. Diese Reise zu mir selbst birgt so unermesslich viel. Jede Erkenntnis, jeder Ah-Effekt vervollständigt mein Lebenspuzzle. Jede Erfahrung, positiv, wie aber auch negativ, ist wie ein innerer Kompass, der mich auch auf Umwegen jedes Mal erneut auf den richtigen Kurs bringt. Und hier draußen ist dann alles wieder im Gleichgewicht, alles im Flow.

Meine kleine Polaris Drabant hat nicht viel zu bieten und doch habe ich hier alles, was ich brauche. Mein Motto basiert auf dem Prinzip „weniger ist mehr“ und immer wieder merke ich, wie die Reduzierung auf das Wesentliche für meine persönlichen Ansprüche ausreicht und mich zufrieden stellt. Wir sind für einander da, mein Boot und ich.

Die angesagten 8 bis 19 Knoten Wind bleiben heute aus und stattdessen gleitet Findus gemächlich durchs Wasser. Ich bin mal wieder allein auf der Förde, doch genau so liebe ich es. Ich liebe den freien Blick, ich liebe die Farben am Abend und ich liebe das Plätschern an der Bordwand. Ich liebe die Stille hier draußen, die nur hin und wieder durch die Rufe der vorbeiziehenden Vögel unterbrochen wird. Hier kreischt eine Möwe, dort schnattern Gänse im Vorbeiflug aufgeregt am Himmel und manchmal taucht ein Kormoran in einiger Entfernung aus dem Wasser auf. Rotorangene Quallen schweben an meinem Boot vorbei und ihre Ästhetik fasziniert mich jedes Mal. Hübsche Tiere sind das.

Nach einiger Zeit ruft mich auch heute meine Verantwortung als Mutter und somit mein Leben an Land zurück und ich kehre um. Der Sonne entgegen und ohne Wind bin ich langsam. Ich genieße das Licht und lasse mich treiben. Ein bisschen noch. Und während mein Boot sanft durchs Wasser fährt, fülle ich den Dieseltank nach und überlege, ab wann ich die Segel bergen sollte. Doch noch ist es zu früh. Noch bleibe ich ein bisschen… auch bei mir selbst…

2 Kommentare

  1. schönes Geschicte.

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  2. wunderbarer Text, tolle Frau!!
    liebe Grüße
    Anja

    Antworten
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