29. Juli 2022
Plötzlich Idylle

Die letzten Wochen und Tage waren nicht unbedingt das, was ich mir unter Segelsommerurlaub vorgestellt hatte. Der Starkwind hat mir viel zu oft unheimlich zu schaffen gemacht und meine ohnehin momentan vorhandenen Zweifel noch mehr verstärkt und mir somit kostbare Kraft und Energie, sowie den Mut zum Aufbruch in fremde Häfen genommen. Nur langsam erhole ich mich von meiner persönlichen Niederlage und versuche in irgendeiner Form nach vorn zu blicken. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis ich wieder dort ankomme, wo ich bereits gewesen bin. Doch ich will meine Träume und Hoffnungen nicht aufgeben. Ich werde sie allerdings ein wenig ruhen lassen müssen und versuchen, mir selbst den Druck aus meinen Wünschen und meiner Sehnsucht zu nehmen.

Heute könnte ich weiter. Der Wind hat sich endlich etwas beruhigt und nimmt auch im Laufe des Tages noch weiter ab. Doch wo soll ich hin? Die Häfen in der Südsee sind so verdammt voll und ich habe einfach keinen Spaß am Inselhopping. Ich will einfach nicht um spätestens zehn Uhr am Vormittag im nächsten Hafen sein und wieder an Land rumstehen. Weiter weg, egal in welche Richtung, komme ich in diesen Sommer aber auch nicht mehr und insgeheim frage ich mich gerade, ob es überhaupt irgendetwas bringt, in der Südsee weiter zu segeln.

Zu viele Hafentage in ein und dem selben Hafen tun wahrscheinlich auch nicht immer so gut, wie es sich vermuten lässt. Acht Tage war ich nun schon hier. Acht Tage, die mir irgendwie verloren erscheinen und nicht mit dem gefüllt werden konnten, nach dem sie verlangten. Das lange Rumliegen morgens in der Koje war anfangs zwar noch schön und entspannend, da weder Termindruck die persönlichen Bedürfnisse hinten an stellte, noch ein nutzbares Wetterfenster mich zwang, zu ungnädigen Zeiten das warme Bett zu verlassen und auch keine mütterliche Verpflichtung nach mir rief. Doch bereits nach wenigen Tagen merkte ich, wie eine unangenehme Trägheit begann sich einzuschleichen und meine ohnehin nicht übermäßig vorhandene Motivation noch weiter nach unten fütterte. Ich hatte einfach zu nichts mehr Lust.

Ich war mir selbst an manchen Tagen nicht mal mehr sicher, ob ich je wieder würde segeln wollen oder ob ich es einfach aufgeben sollte. Dieses eine Wort hallte die letzten Tage viel zu oft in meinem wirren Kopf nach. Aufgeben. Ich fühlte mich wie ein unerfahrener Anfänger, der nicht weiß, ob er es wirklich wagen soll, allein raus zu fahren. Was für ein bescheuerter Gedanke. Ich habe mein Boot seit sechs Jahren und dies ist meine fünfte Saison. Ich war auch schon bei weit widrigeren Bedingungen allein unterwegs. Wo kamen nur ewig diese verdammten Zweifel her?

Glücklicherweise drängt mich Lille Bjørns Crew und setzt mir verbal die Pistole auf die Brust. „Wir fahren gleich los. Kommst du also mit oder bleibst du hier?“ Hier bleiben? Allein? Nein. Das will ich auf keinem Fall. Ich muss mich jetzt echt mal zusammenreißen, mein Boot klar machen und gleich ablegen. Doch nicht ohne mich vorher von Leo zu verabschieden. Søbys Hafenmeister ist einfach ein feiner Kerl und auch wenn ich heute für einen Kaffee schon viel zu spät dran bin, sitzen wir doch noch gemeinsam ein paar Minuten auf der Bank neben den Havnekontor und unterhalten uns. „Deine Zweifel. Es liegt nicht nur am Wind. Es sind die Sachen in deinem Kopf, die dich aufhalten.“ sagt er mit seinem dänischen Akzent zum Abschied und ich weiß, dass er recht hat.

Zwar bin ich noch immer etwas unsicher wegen des Windes, doch im Inneren spüre ich, dass ich gern da raus möchte. Raus aufs Wasser. Um meiner letzten Unsicherheit die Schärfe zu nehmen, binde ich das erste Reff ins Großsegel. Ausreffen geht immer. Umgekehrt ist es für mich allein bei Wind und Welle schwieriger am Mast zu stehen und alles festzuzurren.

Nun ist alles fertig und ich starte den Motor, verhole mich zügig ohne weiteres Nachdenken per Hand aus der Box und atme nochmal tief durch. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Ich weiß schließlich, dass ich es kann. Nun muss ich nur auch wieder anfangen an mich glauben. Ein Bekannter sagte mal sinngemäß zu mir: „Selbst wenn dein Verstand es vergessen hat, dann ist es so in deine Matrix eingebrannt, dass es wie von selbst einfach funktioniert.“ Und dem ist auch so. Wie ich aus dem Hafen heraus fahre, merke ich, wie meine Souveränität mir zur Seite steht und alles wie von selbst läuft.

Es tut gut zu segeln und fühlt sich richtig an. Das der Törn heute kein vierzig Meilen Schlag wird, schiebe ich on meinem Kopf zur Seite. Immerhin sieht der Kurs unbekanntes Gewässer vor. Östlich geht es durch die Engstelle zwischen Avernakø und Drejø. Hier war ich schon einige Male. Doch segelte ich dort immer nordöstlich und heute geht’s nach Westen, erneut in Richtung Faaborg. So lautete zumindest die Absprache zwischen unseren Booten. Doch während der Kreuz fällt mir ein, dass es auf Avernakø doch auch einen kleinen Hafen geben soll. Einen, in den nur die kleineren Boote mit wenig Tiefgang einen Platz finden und der im Sommer völlig überlaufen sein soll. Natürlich überlaufen, wir sind in der Südsee, welcher Hafen ist hier nicht überlaufen? Doch während ich zwischen Avernakø und Fyn hin und her kreuze, kann ich keine geballten Masten ausmachen. Mit dem Fernglas suche ich die Küste der Insel ab und finde nur einen einzigen Mast. Soll sich dort der Hafen befinden? Das kann doch eigentlich nicht sein. Zwei, drei Mal fahren meine Augen erneut die Küste entlang, doch ich finde keine andere Möglichkeit für einen Hafen und werde neugierig.

Eigentlich macht das Segeln gerade so richtig Spaß. Der Wind steht perfekt und es ist endlich mal nicht zu viel Wind, aber auch nicht zu lau, die Sonne, eingebunden in einen wunderschönen Halo, scheint angenehm warm auf mich herab und ich möchte gar nicht aufhören. Doch wann komme ich hier wieder her? Ich verständige Lille Bjørn und nehme die Segel runter. Wie ein vorsichtiges Tier schleiche ich vor dem kleinen Hafen hin und her, um mich zu vergewissern, dass die Luft rein ist. Die Mole ist frei. Man könnte von außen an ihr fest machen, doch die Heckdalben stehen verlassen da. Ist der Hafen gesperrt? Es kann doch nocht mit rechten Dingen zugehen, dass hier keiner steht. Auch Lille Bjørn schleicht nun mit geborgenen Segeln von der anderen Seite heran. Wie zwei schnüffelnde Hunde nähern sich unsere beiden Boote dem Hafen. Auch keine Motorboote sind zu sehen. Sie sind es, die mich oft täuschen und vorgaukeln freie Plätze vorzufinden, da ich keine Masten entdecke und ihre flachen Rümpfe oft versteckt hinter den großen Steinen der Hafenwand liegen. Doch hier ist bis auf diesen einen Mast niemand.

Hinter der in Hakenform gelegenen Mole erwartet mich ein Traum. Eine Zeitreise in eine längst vergessene Welt. Eine winzige Bucht. Grünes Wasser, Natur und keine Menschen. Fast ein wenig ehrfürchtig und mit seinem knatternden Motor viel zu laut für diese einträgliche Stille steuert Findus eine freie Box an. Ich kann es kaum fassen. Überlaufener Hafen. Kommen die alle noch oder sind die Informationen in meinem Hafenhandbuch tatsächlich so falsch? Die Wassertiefe in den Boxen ist mit 1,50m bis 1,70m angegeben. Hier kommen wirklich keine riesigen Boote rein. Keine Charterschiffe, keine lärmenden Bugstrahler, keine riesige und lärmende Meute. Hier liegt offensichtlich das Bullerbü der dänischen Südsee.

Das, was mich nämlich unerwartet und mit voller Intension hier in diesem kleinen Hafen, den ich gar nicht vorhatte anzulaufen, empfängt, ist genau das, was ich brauche. Eine angenehme Einsamkeit, absolute Ruhe und Entspannung pur. Ein Runterkommen. Ein Ankommen. Einfach nur Sein, ähnlich wie auf See. Losgelöst vom selbstgemachten und erzwungenen Stress des Alltags in der heutigen Zeit, findet sich hier nur das Nötigste.

An Land gibt es einen alten, offen stehenden Schuppen und schon an der Tür kommt mir dieser Geruch entgegen. Kühl. Alt. Ein bisschen Modrig. Ich liebe diesen Geruch von abgestandenem Staub und von der Sonne erhitztem Holz und muss ihn automatisch ein paar Mal kräftig durch die Nase einatmen. Wahnsinn. Das es sowas überhaupt noch gibt, wo doch überall abgerissen, erneuert und modernisiert wird. Ich fühle mich direkt zurück versetzt in eine andere Zeit und bin für kurze Augenblicke nicht mehr im Jahr 2022. Die Fenster hängen voll mit dichten und dunklen Spinnenweben und so groß meine Phobie vor den dicken, schwarzen Achtbeinern auch ist, ihre zum Teil verlassenen Nester wirken in den Ecken und Rundungen genau richtig und verleihen dem Blick durch das Fenster das Gefühl, an einem längst verlassen Ort gelandet zu sein. Auch der Staub und Deck an den Scheiben ist nicht wegzudenken und verleiht dem Blick nach draußen etwas mysteriöses. In den Ecken des Schuppens liegen und stehen Spiere und weitere Fischfanggeräte und ein antik anmutendes Regal gegenüber beherbergt neue und vergilbte Bücher zum Ausleihen. Noch immer ehrfürchtig stehe ich in diesem Raum und lasse diesen aktuellen Teil meines Sommertörns auf mich wirken. Die rostigen, schiefen und ebenfalls staubigen Öllampen auf dem hölzernen Tisch machen das Bild perfekt. Ich liebe alte Dinge und die Atmosphäre im diesem urigen Gemäuer nimmt mich vollkommen ein und umgibt sich wie ein Zauber, der mich wie von selbst jeglicher Zweifel an meiner Umwelt entledigt. Um diesen Ort hier zu finden, mich auf ihn einlassen zu können, musste mein vorangegangener Weg wohl genau so verlaufen, wie er die letzten Wochen war, denn sonst wäre ich heute nicht hier.

Innen neben der Eingangstür hängt ein kleiner Kasten mit weißen Briefumschlägen. Mit Bargeld, in dänischen Kronen oder Euros, wird hier bezahlt und der Umschlag in den darunter hängenden Briefkasten geworfen. Kein Automat. Kein Hafenmeister. Keine Hafenmarke. Nur zwei fast verloren gegangene Tugenden: Ehrlichkeit und Vertrauen. Wer hier betrügt, hat kein Gewissen und keinen Anstand. Am Tor hängen von außen die nötigsten Informationen. Wichtige Telefonnummern von Ärzten, Versorgungsmöglichkeiten und eine Erklärung  zu den Hafengebühren. Mehr braucht es hier nicht. Selbst fließendes Wasser sucht man vergeblich. Nur Strom kann man direkt am Steg bekommen. Alles andere unterliegt genau meinem Motto: weniger ist mehr.

Auch Wlan gibt es hier keinen und mobile Daten werden nur mit Glück und auch dann nur recht selten ausgetauscht, wenn von irgendwo her ein Signal erscheint. Wer sein Handy freiwillig nicht liegen lassen kann, wird hier indirekt gezwungen. Auch meine Tochter ist jetzt das erste Mal richtig gezwungen, sich etwas anderes als Handy daddeln zu überlegen. Schaft Sie es in anderen Häfen doch immer wieder, Plätze mit Wlan Empfang zu finden oder mich derart zu bequatschen, dass ich ihr, der lieben Ruhe wegen, doch wieder einige meiner mobilen Daten via Hotspot überlasse, so kann sie hier betteln, flehen und suchen, doch tiktok, snapchat und Insta bleiben unerreichbar und einen echten Sündenbock gibt es auch keinen.

Ich selbst nehme mein Handy auf meine kleinen Streifzüge durch die umliegende Gegend auch nur mit, um unzählige Bilder von dieser berauschenden Idylle machen zu machen. Das ist es, was mir die letzten Wochen gefehlt hat. Ankommen im fremden Hafen und diese Neugier auf etwas Neues zu spüren. Neues Terrain und unbekannte Wege erkunden. Offen sein für das, was mich erwartet und mich einlassen auf jenes, was mich umgibt. Hier ist all das gegeben und zudem ist es einfach wunderschön.

Nach meinen Streifzügen sitze ich im Cockpit meines Schiffes und staune nicht schlecht, wie meine Tochter plötzlich nach dem Kecher fragt. Kommentarlos gebe ich ihn ihr. Ich möchte ihren Mut zu sein nicht mit Worten mildern, möchte ihr nicht das Gefühl geben, in irgendeiner Weise ertappt zu sein. Nach wenigen Minuten kommt sie erneut und fragt nach einem Eimer und nimmt die kleine Pütz mit. Beim dritten Mal fragt sie nach der kleinen grünen Kinderangel, die seit zwei Jahren unbenutzt in der Backskiste liegt und heute doch noch mal zum Einsatz kommt, um Krebse am Strand zu fangen. Büllerbü. In der Tat.

Bis zum Abend hin kommen nur drei weitere Boote, die neben Findus, Lille Bjørn und dem Mast der schon vor uns im Hafen stand, in Korshavn eingelaufen. Es bleibt ruhig. Kein Kindergeschrei, keine lärmende Party beim Grillen am Steg und auch keine vorlauten Menschen die sich in den Vordergrund zu stellen versuchen. Stattdessen liegt eine ausgeglichene Harmonie über den wenigen Booten und ich kann diesen Nachmittag und den darauf folgenden Abend mit seinem grandiosen Sonnenuntergang bis zum Ende in jedem noch so kleinen Detail vollends genießen.

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