11. Dezember 2022
Segeln als Therapie

Ich kann mich einfach nicht anfreunden mit dem Dezember. Das war noch nie wirklich meine Jahreszeit. Adventsfeiern, Kekse backen, Weihnachtsstimmung. Schon als Kind war mir das ein Graus und ich war jedes Jahr froh, wenn dieser Monat endlich vorbei war. So wirklich geändert hat sich daran bis heute nichts. Noch immer schüren die geschmückten Einkaufzentrem, die künstlichen Lichter und all die unnötig gefällten und am Ende nicht verkauften Tannenbäume negative Gefühle in mir und statt dass ich mich an den diversen Weihnachtsvorbereitungen erfreuen kann, deprimieren sie mich nur und laugen mich aus. Der Dezember ist für mich ein riesiger Energieräuber, dem ich nicht aus dem Weg gehen kann, da er überall lauert und ich nirgends sicher bin vor ihm. Ich versuche dieses Spiel also Jahr um Jahr, vor allem meinem Umfeld zu liebe, erneut so weit es geht mitzuspielen und jedes Jahr aufs Neue kostet es mich Kraft und zwingt mich in eine Rolle, die nicht die meine ist. Es nagt an meinem Selbst. Ich schweige. Mag mich nicht mehr rechtfertigen und fühle mich vollkommen unverstanden.

Heute ist Sonntag, der dritte Advent. Es ist kurz nach fünf Uhr am Morgen und entsprechend noch stockfinster. Ich kann nicht mehr schlafen und wälze mich unruhig hin und her. Seit drei Tagen merke ich, wie eine düstere Wolke sich mal wieder versucht in mir auszubreiten. Ich bin müde. Bin kraftlos und habe zu nichts Lust. Ich fühle mich falsch und unverstanden in der Menge. Gehöre nicht wirklich dazu. Bin irgendwie anders. Ich brauche die Stille, die Weite, das Meer und so entscheide ich mich, früh aufzustehen und an die Ostsee zu fahren, um meinen Kopf wenistens ein klein wenig frei zu bekommen.

Es ist arschkalt. Minus acht Grad zeigt das Außenthermometer im Auto an und ich stelle mich für heute lediglich auf einen Spaziergang am Strand ein, da es fürs Segeln wohl zu kalt sein wird und das Wasser gefroren sein könnte. Der Sonnenaufgang über dem Wasser ist mal wieder wunderschön. So individuell. Keiner gleicht dem anderen und es ist vollkommen egal, wie spektakulär ein voriger auch gewesen sein mag, denn ich staune immer wieder erneut über die Kraft der Sonne, die ich an diesem Morgen mal wieder alleine bewundere. Kein Mensch ist hier. Keine Seele scheint sich heute an diesem Ort für die Schönheit der Natur zu interessieren.

Eis auf dem Wasser gibt es keines und auch die kleinen und flachen Pfützen am Strand sind lediglich mit einer zarten Schicht noch nicht fest gefrorenen Eises überzogen. Selbst der Sand ist weich und weder Steine noch Muscheln sind vom anlandenden Wasser eisig überzogen. Vielleicht kann ich heute doch segeln? Mein Weg zurück führt mich also nicht nach Hause, sondern direkt zum Hafen. Auch hier ist keine Spur von zartem Eisgang zu erkennen.

Das es noch immer kalt ist, steht außer Frage, denn die hölzernen Stege, ebenso wie die Decks der im Wasser überwinternden Boote, sind mit einer weißen Frostschicht überzogen. Auch Findus strahlt glitzern im Sonnenlicht mit diesem weißen Überzug und sieht fast ein bisschen aus, wie eine stille und vergessene Märchenfigur aus einem Winterdrama.

Vor ein paar Tagen hatte ich die Überlegung mein Boot einzuwintern. Minusgrade sind nicht unbedingt gut für den Kühlkreislauf des Motors und ich möchte kein Risikos eingehen. Andererseits bedeutet es auch ein gewisses, wenngleich eher ein luxuriöses Risiko, nicht einfach ablegen und für ein paar Stunden dem Alltag entfliehend rausfahren zu können, wenn die Maschine erstmal lahmgelegt ist. Mit Temperaturüberwachung im Salon, dem Motorraum und der Backskiste, habe ich mich dann vorerst doch gegen ein Stilllegen der Maschine entschieden und bin jetzt mehr wie froh darüber, da die kommenden Stunden vielversprechend sind.

Das Deck auf dem Vorschiff knackt leise beim Betreten und kurz kommt mir der unwohle Gedanke, das gefrorene GFK könnte bersten unter meinem Gewicht. In klirrender Kälte bricht erfahrungsgemäß alles schneller ohne sich zuvor zu verbiegen. Doch Findus hält stand und ich schliddere mehr über mein Boot, als dass ich gehe. Es ist rutschig und auch die mittlerweile gestartete Heizung bringt nicht den erhofften Effekt. Nichts schmilzt. Nichts löst sich zu Wasser und kein weißer Wasserdampf steigt von der Sonne erwärmt empor. Der Frost an Deck hält sich hartnäckig, während die Temperatur im Motorraum selbst die Nacht über um einige Grad über den Gefriepunkt lag.

Vielleicht ist es wirklich total bekloppt, was ich hier mache, doch mein Herz verlangt danach. Beim letzten Mal bei niedriger Temperatur konnte ich mein Deck mit Salzwasser vom Frost befreien und so versuche ich genau das heute erneut. Doch es ist zu kalt. Die Lufttemperatur ist zu niedrig und das Kunststoffdeck meines Bootes zu eisig, sodass das verschüttete Salzwasser an Bord direkt gefriert. Ein Eigentor, welches mein Ablegen unnötig in die Länge zieht. Mit bloßen Händen schmilze ich die zarte, jedoch unheimlich rutschige Eisschicht an den Stellen, wo ich nach Lösen der Vorleinen an Deck laufen muss und ziehe die entstehende Feuchtigkeit direkt mit dem Fensterabzieher zur Seite. So müsste es gehen. Bevor ich jedoch Ablege präpariere ich noch eine Sorgleine am Steg zwischen den Klampen, an der ich mich beim Anlegen erstmal provisorisch festmachen kann ohne direkt auf den ebenfalls rutschigen Steg springen zu müssen. Jetzt ist alles durchdacht und vorbereitet und ich starte den Motor.

Endlich. Das Herz meines Bootes rattert und Findus trägt mich raus aus der Box, der Reihe und dem Innenhafen. Was für ein Gefühl. Sommer wie Winter. Dieses Ankommen bei mir selbst. Dieses Sein. Alle Last für den Moment von mir genommen. Scheinbar in Luft aufgelöst. Ich bin. Ich atme. Ich lebe. Was für ein Geschenk.

Es ist der dritte Advent und ein Großteil der Menschen tummelt sich in kuschelig warmen Wohnzimmern vorm leuchtenden Adventskranz bei Kaffe und Kuchen. Andere strömen in Scharen über unzählige Weihnachtsmärkte und laben sich an duftenen Köstlichkeiten. Einige wenige sind sicher auch abseits der vorweihnachtlichen Ballungsräume unterwegs und entfiehen so auf ihre eigene Art dem vorweihnachlichen Gruppenzwang.

Während mein Boot mich hinaus auf die einsame Förde trägt, frage ich ungläubig zum wiederholten Male, ob mit mir irgendetwas nicht stimmt. Bin ich wirklich so anders? Warum bin ich denn die einzige, die heute hier draußen ist? Warum segelt denn sonst niemand außer mir? Ich verstehe es nicht. So viele Boote liegen in den Häfen, es ist Wochenende und schönes Wetter, doch keiner fährt raus. Keiner segelt, keiner scheint dieses zu verspüren.

Trotz der Kälte ist es nicht wirklich kalt. Die Wintersonne hat Kraft und Wind ist nur wenig. Mit durchschnittlich drei Knoten raumen Windes kommt Findus gemütlich voran. Ohne Plan und ohne Ziel lasse ich mein Schiff einfach laufen und gebe mich, wie so oft, wenn ich allein auf dem Wasser bin, meinen Gedanken und Träumen hin. Teilen kann ich diese nicht, denn Gleichgesinnte zu dieser Jahreszeit sind rar und ich hatte wohl bislang nicht das Vergnügen vielen von ihnen wahrhaftig zu begegnen.

Fast nur noch ein Schatten ist die Erinnerung an einen Dezember Nachmittag vor ziemlich genau zwei Jahren. Kalt und frostig war es auch da und nur zwei kleine Boote waren an diesem Nachmittag draußen auf der Innenförde. Zwei Segler, jeweils allein auf ihrem schwimmenden Gefährten. Zwei Seelen, deren Blick sich kurz kreuzte und die ohne ein Wort das Sein des anderen verstanden. „….irgendwann reduziert sich das vorerst nötige Worte finden, auf ein kleines, fast unbemerktes, konspiratives Grinsen. Ein Wimpernschlag der alles sagt.“ Ja. Und genau diese Herzen sind Gold wert, denn sie verstehen ohne Worte die Gefühle des anderen. Im Leben bereits schwer zu finden. Und auf See unbezahlbar und mit nichts zu vergleichen.

Heinrich steuert jetzt und ich mache es mir wieder einmal auf dem Sonnendeck meiner kleinen PD bequem und lehne mich gemütlich an mein Vorsegel. Das Deck will nicht wirklich trocknen und die Lauffläche der sonnenabgewandten Seite ist noch immer leicht rutschig vom gefrorenen Salzwasser. Es stört mich jedoch nicht. An Bord ist es wie überall im Freien. Es ist fast egal, wie die Bedingungen sind, nur auf die funktionsfähige Kleidung kommt es an, dann sind Kälte und Feuchtigkeit halb so wild und im Zweifel sogar ganz vergessen.

Vergessen sind auch die grauen Wolken der letzten Tage. Das Dunkel löst sich einfach auf und die Wogen der Freiheit tragen die düsteren Gedanken und Zweifel hinfort. Segeln ist Therapie und mein Boot der mit Abstand beste Therapeut. Kein Zwang, keine Herdenverpflichtung. Kein du sollst oder musst. Keine gespielte und ungeliebte Rolle. Nur reines Sein. Ich wiederhole mich, ich weiß. Doch jedes Mal, wenn ich so empfinde, bei mir selbst ankomme und es nur mir selbst recht machen muss, und genau das auch will, bin ich so unsagbar glücklich.

Ich kehre langsam um. Die Sonne sinkt schnell und je näher ich dem Hafen mit der großen Werfthalle komme, desto schneller wird sie plötzlich verschwunden sein. Die Temperatur fällt zusehends und erreicht wieder den Minusbereich. Das gemütliche Zurücklehnen ist nun vorbei, da die Kühle ohne Bewegung nach über drei Stunden auf dem Wasser nun doch versucht mir in die Knochen zu fahren. Seit acht Stunden bin ich jetzt an der frischen Luft. Erst zum Sonnenaufgang an der Ostsee, dann im Hafen mein Boot klar machen und letztlich ein kleines bisschen auf See, wenngleich auch nur auf der Förde vor der Haustür.

Jetzt sind es die gelben und leicht orangen Farbnuancen der untergehenden Sonne, die meine Aufmerksamkeit fesseln und die Kälte vergessen lassen. Bevor ich für heute die Segel berge, kreuze ich noch ein mal hin und her. Ich genieße dabei den Anblick der Farben, nehme die Atmosphäre in mich auf und halte diese schönen Gedanken und Momente fest.

Was für ein phantastischer dritter Advent.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Abonniere meinen Blog

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten.

Wir halten deine Daten privat und teilen sie nur mit Dritten, die diesen Dienst ermöglichen.

Archiv