22. Juni 2022
Sommersonnenwende 2022

Meine Sehnsucht quält mich. Mein sehnlichster Wunsch, dieses tiefe Verlangen in mir, die Leinen wirklich loszumachen und einfach abzuhauen nagt an mir und wird es wohl auch in den kommenden Jahren noch weiterhin tun. Ich kann es schon länger nicht mehr richtig genießen, nur auf der Innenförde ein paar Wenden zu segeln und dann zurück in den nervigen, weil viel zu lauten und unpersönlichen Heimathafen zu fahren. Das mag für den einen oder anderen wahrscheinlich undankbar klingen, schließlich habe ich bereits weit mehr Möglichkeiten wie andere, insbesondere auch andere Frauen in meiner Situation, doch mein inneres Selbst schreit nach etwas anderem. Ich will weg. Wirklich weg. Raus aus diesem tristen und trostlosen Alltag. Raus aus all den gespielten und mir nicht passenden Rollen. Ich will weg von den Menschen, deren Unverständnis für die Schönheit der Stille ein ewig währenden Lärm verursacht und mir damit die Chance auf ein eigenständiges und friedliches Sein verwehrt.

Hin und hergerissen zwischen meinem eigenen Wunsch und dem damit einhergehenden Verlangen auf mein persönliches Selbst auf der einen und meiner Verantwortung und Rolle als Mutter auf der anderen Seite, bin ich bei jedem kleinen Törn vor der Haustür unsicher, was der richtige Weg ist. Nicht selten fahre ich gar nicht erst los. Doch heute muss ich raus. Für ein paar Stunden, vielleicht auch mal etwas länger wie gewöhnlich. Wenigstens heute. Vielleicht bis zur Außenförde. Einen winzigen Hauch meiner persönlicher Freiheit spüren.

Doch kaum habe ich die Leinen los gemacht und mich noch nicht einmal der Hafengrenze genähert, klingelt auch schon mein Handy. Hier ein Anruf, da eine WhatsApp Nachricht. Meine Pflicht ruft auch hier auf dem Wasser. Immer. Nicht erreichbar sein funktioniert in meiner Position noch nicht wirklich. Die Maschine läuft und der Autopilot steuert, während ich Fragen beantworte, Sorgen schlichte und meiner Verantwortung per Telefon im Gespräch und schriftlich nachkomme. Es dauert, bis ich die Segel in Ruhe setzen kann und meine ganz eigene kleine Zeit für ein paar Stunden endlich beginnt.

Es ist Sommersonnenwende. Für die einen ein heidnisches Fest, für andere gar eine Art religiöser Feiertag. Für viele ein Lichterfest, am dem der Tag nicht enden möchte und die Nacht nur kurz währt. Ab jetzt werden die Tage wieder kürzer und doch beginnt in unseren Breiten kalendarisch heute erst der Sommer. Ich sehe es mehr wie die Iren, deren Sommer am 1. Mai, an Beltane beginnt und nach drei Monaten, am 1. August zu Lughnasadh, dem Beginn des Herbstes endet. Die Sommersonnenwende markiert so nicht nur den Wendepunkt, an dem einer der Pole der Erde seine maximale Neigung zur Sonne erreicht hat, sondern auch auch den Midsommer, der in Schweden z.B. immer am einem Samstag zwischen dem 20.6-26.06. gefeiert wird. Ein Fest des Lichtes und des Erlebens.

Ein Fest des Erlebens ist jetzt auch mein heutiger Törn. Wollte ich anfangs wie immer nur einmal zu den Ochseninseln und zurück segeln oder vielleicht die Tonne 12 auf der Innenförde umrunden, so hat mich mein innerer Drang nicht losgelassen und doch weiter getrieben. Es ist der längste Tag im Jahr und somit auch der hellste Abend. Ich muss das nutzen und für die kommenden Stunden versuchen alles weitere auszublenden. Ich möchte mein eigenes kleines Lichtfest feiern. Hier an Bord. Ganz für mich allein.

Ich liebe dieses Alleinsein. Liebe es eins zu sein, mit mir und meiner Umwelt. Liebe es keine Erwartungen erfüllen und keine Kompromisse eingehen zu müssen. Ganz nah bei mir selbst sein zu können und keinerlei Einflüssen von außen ausgesetzt bin und dadurch gezwungen bin reagieren zu müssen. Ich liebe es schlicht und einfach nur sein zu dürfen. Für mich ist das der wahre Luxus unseres sich tagtäglich überschlageden Lebens. Deshalb liebe ich es, der Stille auf See zu lauschen. Sie schreibt nichts vor, erwartet nichts. Sie hört geduldig zu, wenn ich in Gedanken mit mir selbst spreche und gibt mir so die Chance mein chaotisches Gedankenkarussell zu sortieren. Sie zeigt mir das Wesentliche meines Kerns und sie ist ehrlich. Denn nur durch diese Stille, die dem Alleinsein hier draußen beiwohnt, ist es überhaupt erst möglich, wirklich zu mir selbst zu finden.

Die Welt hier draußen ist so traumhaft still und ich kann von diesen kostbaren Momenten einfach nicht genug bekommen. Es ist wie ein Rausch. Ein Rausch der Sinne, der mich durchströmt und in jede einzelne Faser Einzug hält. Ich will mehr davon. Immer mehr. Es ist so wunderschön in diese Stille zu lauschen und dabei ausschließlich das zarte Rauschen des Wassers und die sprudelnden Sauerstoffbläschen zu hören, die am Rumpf meines Schiffes entlangstreifen. Alles ist so friedlich und mein eigener innerer Frieden stellt sich nun auch ein. Ein Ankommen. Ein einverstanden sein. Ein kurzer Moment des Glücks. Hier draußen bin ich glücklich, einfach weil ich ganz ich selbst sein kann. Frei. Frei von allem was mich fordert und erdrückt. Frei von gesellschaftlichen Erwartungen und Verpflichtungen. Frei von allen auferlegten Rollen, die das Leben im Lauf der Jahre mit sich bringt. Einfach frei. Einfach mein elementares Ich.

Der Wind steht günstig und treibt mich immer weiter hinaus auf der Außenförde. Mit achterlichen Winden erreiche ich die Sønderborger Bucht und erst nach über zwanzig Meilen lasse ich den zögerlichen Gedanken an meinen nötigen Rückweg zu. Über vier Stunden bin ich hinaus gesegelt. Einfach dorthin, wo der Wind mein kleines Schiff getragen hat. Einfach so, wie es gerade am meisten Spaß macht. Mal hart an Wind mit leichter Krängung, mal mit Seitenwind und maximaler Geschwindigkeit und mal mit flatternden Segeln, weil ich mich in meinen Träumen verloren und nicht auf den Wind geachtet habe.

Zurück werde ich jetzt nun kreuzen müssen und darauf freue ich mich. Bedeutet dies so doch eine längere Zeitspanne auf dem Wasser sein zu können und nicht so schnell anzukommen, als würde ich den direkten Weg zurück segeln.

Unterwegs ist jetzt kaum noch jemand. Nur drei, vier Boote sind noch am Start. Hier ein Segler in der Abendsonne, dort ein schneller Motorjunkie und weit entfernt ein nackter Mast unter Maschine. Der alltägliche Abend zwingt die Menschen nach Hause. Verpflichtungen folgend ergeben sie sich der Maschinerie des Alltags. Auch ich habe im Hinterkopf wieder diesen Druck und den aufkeimenden Hauch eines schlechten Gewissens. Darf ich mir diesen unermesslichen Luxus, allein hier draußen zu sein und die Stille zu inhalieren, überhaupt erlauben? Wie viel Selbst ist angemessen? Wie viel Selbstheilung, mit einer möglichen Vernachlässigung meiner Rolle und Aufgabe als Mutter auf eventuelle Kosten meiner Kinder darf ich stattfinden lassen? Ein ewiger Balanceakt zwischen der Notwendigkeit des eigenen Seins und der Verantwortung in meiner Rolle. Ich schiebe den Gedanken beiseite und entscheide mich für mich. Nicht aus unüberlegtem Egoismus, sondern weil ich mich schlicht und einfach selbst brauche, um die nächsten Tage weiter funktionieren zu können.

Langsam wird es nun kalt. Konnte ich auf dem Weg nach draußen noch leicht bekleidet den warmen Sommerwind auf der Haut genießen, so habe ich mittlerweile doch die Shorts gegen eine Leggings getauscht und meinen dicken Rymhart übergezogen. Das es bereits nach 20 Uhr ist merkt man allerdings aufgrund der Helligkeit nicht wirklich.

Noch immer genieße ich mein Alleinsein und erfreue mich an der unermesslichen Schönheit um mich herum. Doch sobald die Sonne tief genug steht und mit ihrem Leuchten meine Segel in einem wunderschön cremigen Weiß erstrahlen lässt, spüren ich einen winzigen Stich im Herzen. Da war es wieder, das nicht mögliche Teilen. Der ewig währende Wermutstropfen, der mich dann doch auf meinen kleinen und größeren Törns stetig begleitet und sich meist zum Ende hin in meine Gedanken einschleicht.

Ich lasse den Autopiloten steuern und setze mich aufs Vordeck. Der Wind lässt langsam nach, doch noch möchte ich nicht die Maschine anwerfen um nun doch in Richtung Verantwortung und Rolle zu starten. Stattdessen segle ich der Sonne noch Stück weiter entgegen und lasse das Licht auf mich wirken. Ich sitze einfach nur da und erfreue mich an dem, was ich sehe. Ich starte mein Gedankenkarussell und ergebe mich für einen Augenblick meinen nicht realisierbaren Träumen, bevor ich den Kurs Richtung Südwest ändere und beginne die Segel zu bergen.

Wunderbare Stunden liegen hinter mir. Neue Erfahrungen und die Erkenntnis, das ich meiner persönlichen Freiheit immer ein Stückweit näher komme. Was vor ein paar Jahren noch nicht möglich war, kann ich nun doch hin und wieder realisieren.

Die letzten eineinhalb Stunden überlasse ich es Harry, meinem Motor, mein Boot voran zu bringen. Mit Vollspeed geht es nun zurück Richtung Heimathafen und damit ich das Knattern der Maschine nicht so laut höre, verbinde ich mein Handy mit dem Bluetooth Lautsprecher und drehe die Musik voll auf. Unterwegs ist jetzt keiner mehr und somit störe ich in dieser Nacht bei nun doch immer dunkler werden Himmel niemanden mit meinem Rock und Pop aus den Achtzigern.

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