Noch ist es trüb, doch der Wind hat endlich ein klein wenig nachgelassen. Wie lange das so anhalten wird, kann man im Moment nicht so genau wissen, doch einen Versuch heute den Hafen zu verlassen ist es wert. Vielleicht bleibt es ja so. Vielleicht auch nicht. Aber nach fünf Tagen in Søby muss ich einfach versuchen etwas anderes zu sehen.
Vielleicht komme ich doch noch Richtung Norden? Vielleicht, wenn ich dicht an der Ostküste Dänemarks entlang fahre, wo der Wind nicht so stark ist? An der Küste. Keine echte Verwirklichung meiner Träume, das Land so nah und immer im Blick, doch eventuell wenigstens eine minimale Chance lange Strecken zurücklegen zu können. Meine Gedanken überschlagen sich und erneute Hoffnung keimt in mir hoch. Hoffnung auf Leben. Hoffnung auf positives Fühlen, darauf, wieder so etwas wie glücklich sein wahr nehmen zu können. Tief in meinem Inneren möchte ich das Leben so gern in seiner vollen Intensität spüren und fühlen, was es mit mir macht, wenn ich nicht nur existiere, sondern wahrhaftig auch ich selbst sein kann. Ich selbst sein darf und somit nicht nur existenziell lebe.
Ich giere nach dieser inneren Freiheit, die von außen nicht zu erkennen ist. Dieses innere Glück, was die Weite mit sich bringt und was im absoluten Nichts seine größte Erfüllung findet. Ich verlange nicht viel und eigentlich ist es nur dieses Nichts, wonach ich mich so sehr sehne.
Bis zur Nordpitze Ærøs lasse ich die Maschine laufen. Erst dann bin ich raus aus der Landabdeckung und habe den für mich perfekten Segelwind in den Segeln. Skoldnæs lasse ich hinter mir und dann rauscht Findus los und scheint, ebenso wie ich, der großen Weite entgegen zu streben.
Endlich hat die Angst und die sich eingeschlichene Panik ein wenig nachgelassen und ich kann mich wieder annähernd darauf einlassen bei mir selbst zu sein. Es war bei weitem keine schöne Erfahrung, derart abgekoppelt von sich selbst zu sein und damit auch vollkommen unfähig, rational denken zu können. So komplett neben sich zu stehen und sich hilflos zu fühlen. Der Verstand weiß zwar, dass die Gedanken, die einem im Hirn umher schwirren, nicht der Realität entsprechen, doch scheint die Verknüpfung vom Vetstand zum aktiven Handeln derart gestört, dass man nahezu gelähmt und nicht mehr Herr über sich selbst ist.
Ich erreiche den Årøsund. Der Wind ist perfekt und der Strom ist auf meiner Seite. Findus fliegt förmlich vorwärts und ich empfinde das erste Mal seit Tagen wieder annähernd Spaß und Freude. Der Kurs geht nach oben, nach Norden und von der Hoffnung beflügelt, sehe ich der kommenden Woche positiv entgegen. Noch habe ich knapp drei Wochen Zeit und wenn es nun mal nicht Schweden werden kann, so doch vielleicht die Århus Bugt, die ich schon im letzten Jahr gern besegelt hätte. Auch da waren wir in Flotille unterwegs. Doch Lille Bjørns Motor versagte und Findus musste sein jüngeres Schwesternschiff einige Male schleppen, sodass wir das Risiko nicht eingehen wollten, bei eventueller Flaute nicht zurück zu kommen. Aber einmal mit meinem Boot zu seiner Geburtsstätte nach Egå fahren, dort weitere PDs sehen, denn da oben gibt es einige von Findus‘ Schwesternschiffen, wäre irgendwie eine nette Sache und auch in diesem Jahr eine Alternative zum Kattegat.
Ich bin motiviert. Angetrieben von der zunehmenden Weite und dem sich immer mehr lichtendem Land, spüre ich das Leben ein wenig in mir zurück kehren. Ich suche nach einem kleinem Abenteuer, einer Herausforderung, die mich im Umgang mit meinem Boot bestätigt und laufe voller Übermut den Hafen von Årø an. Wir wollen nicht wirklich hier her, doch es liegt auf dem Weg und einen eintägigen Abstecher könnte ich mir durchaus vorstellen. Eine weitere neue und mir bislang unbekannte Hafenmarke würde die bis hier her eher triste und bereits bekannte Reihe der bunte am Ende meiner diesjährigen Reise gesammelten Marken ergänzen. Doch der Hafen ist voll. Keine einzige freie Box ist mehr zu finden und auf Päckchen und Gequetsche steht mir nicht der Sinn. Im Hafen bin ich lieber für mich und bevorzuge Liegeplätze die zu beiden Seiten verweiste Boote beherbergen.
Der Wind steht günstig von achtetn und meine Kraft reicht aus, um weitere fünfzehn Meilen bis nach Middelfart zurück zu legen. Je weiter wir kommen, desto eher kann ich dem Land, zumindest mit den Augen in Richtung Osten, absagen und meine geliebte Weite sehen.
Nach einigen Meilen frischt der Wind etwas auf und ich merke wieder eine leichte Unsicherheit in mir aufsteigen, die ich jedoch sofort im Keim ersticke, bevor sie beginnen kann, mir meine Entschlossenheit zu nehmen und mich daran hindert weiter zu kommen. Wind und Wellen tragen und schubsen mich nach vorn und der noch immer mit mir laufende Strom bringt Findus ein mal mehr weit über seine Rumpfgeschwindigkeit.
Ungläubig und doch respektvoll staune ich darüber, dass ich das hier gerade tatsächlich allein packe. Vor ein paar Tagen hatte ich meinen absoluten Zusammenbruch und jetzt segle ich bei 20 Knoten Wind den Lillebælt in Richtung Norden. Es ist ein schönes Gefühl und ich spüre erneut, wie die See tatsächlich in der Lage ist mich zu heilen und zu meinem Wohlbefinden und meinem Glück beizutragen.
Es ist nicht der Luxus ein Boot zu haben, denn Findus entspricht sicherlich nicht der allgemeinen Vorstellung von heutigem Luxus, es ist eher der immense Luxus des eigenen Seins, das Gefühl ganz nah bei selbst sein zu können, den ich hier draußen finde. Keine Rolle, keine Zwänge. Nur ich. Zumindest solange bis meine Tochter gegen Mittag aus der Koje krabbelt und erneut mit Wünschen, Forderungen und Erwartungen diesen wunderbaren Augenblick in meine alltägliche Realität zurück katapultiert. Doch noch bleibt mir etwas Zeit. Noch ist sie unter Deck und ich kann bei mir und weit weg von allem anderem sein.
Hier draußen beginnt nicht nur das Leben, hier draußen nehmen auch meine Träume eine andere Dimension an. Sie sind nur in meinem Kopf und doch genieße ich es, sie in der Ferne am Horizont wie auf einer gigantischen Leinwand zum Leben zu erwecken. Wieder und wieder erfüllen sie mich mit Hoffnung und bringen mich an Orte, die ich bislang nur von Bildern und auf der Landkarte kenne und die ich hoffe eines Tages mit eigenen Augen sehen zu können.
Doch irgendwann ist jeder Traum einmal ausgeräumt. Zumindest für den Moment. Der Hafen kommt langsam in Sicht, ich Berge die Segel und fahre langsam unter Maschine in den Fanø Sund. Es ist schön hier. Das kräftige Grün des Landes zieht sich wie ein Band zwischen Himmel und Wasser hindurch und keine Häuser, Fabriken oder sonstige von Menschenhand errichteten Gebilde blockieten die natürliche Idylle. Nur die weißen Segel des ein oder anderen Bootes und hier und da ein Anklerlieger mischen sich in das Bild dieser winderschönen Landschaft, in das sie harmonisch nicht nur hinein passen, sondern irgendwie auch dort hingehören.
In Middelfart bin ich sicher einen Platz zu finden. Die Marina ist groß, doch ist sie dennoch ein Ort der Ruhe, den ich gerne anlaufe. Ich mag Häfen, deren Boxen nicht nur auf große Boote ausgelegt sind und wo auch alte und einfache Yachten in ihrer Boxengröße und mit entsprechendem Preis sich willkommen fühlen können.
Die lange Mole liegt voll mit getrockneten und plattgefahrenen Seesternen. So viele von ihnen auf einem Fleck habe ich noch nie gesehen und ich bin doch etwas verwundert, wie sie an Land gekommen sein mögen? Vielleicht ein Unwetter, was sie vom Grund des Ufers mit den Wellen an Land peitschte, um sie dort ihrem Schicksal zu überlassen? Im ersten Augenblick erscheint es mir logisch, doch auf dem Weg zu meinem Boot bemerke ich, dass auch an Deck vernachlässigter Boote viele ihrer toten Artgenossen zu Hauf zu finden sind. Vielleicht waren die Möwen der Region fleißig beim Fischen und haben sich so versucht einen Vorrat anzulegen? Hin und wieder kommt eine geflogen und pickt mit ihrem kräftigen gelben Schnabel einen Seestern von der geteerten Straße, um im Nu mit ihrer Beute das Weite zu suchen. Was auch immer hier passiert ist, es fasziniert mich.
Die Marina ist ruhig und auf meinen kleinen Spaziergängen treffe ich kaum auf Menschen. Einerseits fühle ich mich dabei verdammt einsam, möchte ich die schönen Momente doch so gern teilen und in den traurigen eine Schulter zum anlehnen an meiner Seite wissen, doch auf der anderen Seite ist es genau dieses Alleinsein, was ich so sehr genieße und bei dem ich voll und ganz zu mir finde. Es ist so paradox und ich frage mich, wie ich Außenstehenden diesen Gegensatz jemals begreiflich machen kann. Doch letztlich ist es wohl egal, was ein Außen denkt. Auch wenn ich in meiner Person oft als anders, launisch oder seltsam wahrgenommen werde, so sind das doch alles Seiten an mir, die sicherlich irgendwo ihren Ursprung haben, doch die es im Leben gilt zu ergründen, zu verstehen und vielleicht auch einfach anzuerkennen und nicht einfach zu überspielen und beiseite zu schieben, nur weil dies für den Moment bequemer erscheint. Ich arbeite an mir, doch es braucht Zeit.
Die Ruhe im Hafen wird untermalt von der Farbenvielfalt des heutigen Tages. Heute morgen noch grau und mit vereinzelten Tropfen hat sich der Himmel ebenso wie mein Herz geöffnet. Ich sauge sie auf, die farbliche Vielfalt, die Atmosphäre, die mich umgibt und bin froh darüber, wieder ein wenig Licht in meinem Inneren spüren zu können.
Am Abend ist der Wind wieder deutlich zu spüren und klettert erneut über die zwanzig Knoten Marke. Ich bin unsicher, ob ich wirklich nach Norden weiter fahren soll. Was ist, wenn ich nicht zeitig zurück komme? Meine Wünsche kollidieren erneut mit meinen Ängsten. Die Langzeitprognose der vergangenen Wochen hat deutlich gezeigt, dass man locker, zumindest was die langgezogenen Böen angeht, eine Windstärke drauf legen kann und da liegt meine Grenze ganz klar weit unter den vorausgesagten Werten. Für mich macht es irgendwie einen Unterschied, ob ich bei moderaten Bedingungen starte und der Wind dann zunimmt oder es direkt wellig und hackig losgeht. Mit Lille Bjørn bespreche ich das weitere Vorgehen und auch die Jungs kommen zu dem Schluss, dass es wider jeder Wünsche und Erwartungen vernünftiger ist, den kommen Törn erneut auf Süd zu setzen und kein zeitliches Risiko und den daraus resultierenden Druck aufzubauen. Vielleicht ist es nur die Gruppendynamik, doch morgen wird es bei Flaute zurück in die Südsee gehen.
Irgendwo im Hafen erklingt spät am Abend eine Gitarre. Leise und zarte Klänge, deren Töne nicht unbedingt harmonisch, dafür aber gerade unheimlich schön erklingen, lassen mich innehalten. Ihr unbekannter Spieler übt sich an der Melodie von „Nothing else matters“ von Metallica. Ich lausche und auf einmal scheint sich ein Teil meiner immer noch aktiven inneren Unruhe zu lichten. Ich schließe die Augen und höre einfach nur zu.
„Nothing else matters“
So close, no matter how far
Couldn’t be much more from the heart
Forever trusting who we are
And nothing else matters
I never opened myself this way
Life is ours, we live it our way
All these words, I don’t just say
And nothing else matters
Trust I seek and I find in you
Every day for us something new
Open mind for a different view
And nothing else matters
Never cared for what they do
Never cared for what they know
But I know
Never cared for what they say
Never cared for games they play
Never cared for what they do
Never cared for what they know
And I know….
Es ist das Hier und Jetzt, das Erleben dessen, was möglich ist, was mir gegönnt und gegeben ist. Das ist es, was ich mir immer wieder versuche bewusst zu machen. Das dabei düstere Gedanken und dunkle Tage meinen Weg durchkreuzen und mich für einige Zeit aus dem Gefecht ziehen, bleibt wohl leider nicht immer aus. Entscheidend ist, den Weg aus diesem Tief zurück zum Leben zu finden.
Ein ewiger Kampf, doch beim Anblick der Natur um mich herum, auf See und immer dann, wenn ich die Chance habe meinen Rollen zu entfliehen, dann spüre ich wieder diesen Willen in mir. Ich will. Ich will segeln, will entdecken, will erleben und will leben. Ich wiederhole mich, doch ich muss es mir selbst immer wieder vor Augen führen, wofür sich mein eigener und ganz persönlicher Kampf lohnt. Lediglich der Weg zu meinem Selbst und die auf diesem Weg durch Verpflichtungen verlorene Zeit machen mir arg zu schaffen und setzen mich unregelmäßig für längere oder kürzere Phasen außer Gefecht.
Nicht selten höre, sehe oder lese ich Beiträge von Stegnachbarn, weitläufigen Bekannten oder auch unbekannten Seglern. Alleinstehenden Menschen ohne Kinder, Rentner, Pärchen. Ich sehe ihre Erfolge, ihre Möglichkeiten, ihre Chancen. Ich gönne es jedem, denn ich weiß wie grausam unerfüllte Sehnsucht sein kann und wie viel Schmerz sie im Stande ist zu verursachen, doch jedes Mal werde ich auch bitter daran erinnert, was mir nicht vergönnt ist.
Immer dann, wenn ich Bilder sehe vom Schärengarten Schwedens, von der rauen und ursprünglichen Landschaft Norwegens, von blauer Unendlichkeit, die bis weit hinter den Horizont reicht, immer dann werde ich daran erinnert, dass meine Fesseln mich binden und mir die Wunder der Welt, die ich so gern sehen und erleben möchte, verborgen bleiben. Und immer dann, wenn ich meine eigenen, im Verhältnis kurzen und nicht weit entfernten Reisen, Revue passieren lasse, immer dann stelle ich fest, dass auch die kleinen Dinge im Leben ein riesiges Wunder sind und ich nur versuchen muss, nicht nur nach den Sternen greifen zu wollen, sondern tatsächlich im Hier und Jetzt glücklich sein kann.
Die Musik ist verstummt. Es ist spät geworden und dieser Abend war einer der wenigen wirklichen Sommerabende bisher in meinem Urlaub. Unfassbar schön und sicher nicht weniger wert, wie das Nordkamp, die Schären oder das Kattegat.
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