9. September 2022
Frei

Das Wetter ist heute alles andere als schön und die Aussichten für den Nachmittag sprechen absolut gegen ein Ablegen. Dunkelgraue Wolken, gespikt mit andauerndem Starkregen und dazu sich immer wieder neu bildende Gewitterzellen prägen die Wetterkarte. Auf blauen Himmel und Sonne werde ich heute vergeblich warten können. Doch ich habe heute abend und auch die kommenden zwei Tage frei von meinen familiären Verpflichtungen. Sturmfreie Bude sozusagen und das muss ich unbedingt nutzen. Scheißegal was das Wetter dazu sagt und wie bekloppt es auch erscheinen mag, doch ich muss los.

An Bord habe ich es eilig und bereite alles in Windeseile vor. Der Strom muss reingeholt werden, das Großsegel ausgepackt, das Fall angeschlagen und die Fender verstaut werden. Heinrich muss in Position und mein Ölzeug in Reichweite griffbereit parat liegen. Ich möchte nicht darüber nachdenken, wie verrückt das hier gerade ist, ich will einfach nur schnell los, bevor ich selbst an diesem Vorhaben beginne zu zweifeln.

Noch ist es angenehm warm auf dem Wasser. Sicherlich bei weitem kein T-shirt Wetter mehr, doch der diesjährige Herbst hat noch nicht wirklich Einzug gehalten. Er scheint sich jedoch genau das zum heutigen Tagesziel gemacht zu haben und kündigt sich mit immer dunkler werdenden grauen Wolken unaufhaltsam an.

Bereits wenige Meilen, nach denen der Heimathafen hinter liegt, stelle ich mir aufgrund der Schwere der sich über mir zusamnenbrauenden Wolken erneut selbst, still und leise, jedoch nur kurz am Rande meiner Gedanken, die Frage, ob das hier gerade wirklich Not tut und irgendeinen Sinn ergibt. Hinter mir türmt es sich bereits schwarz und bedrohlich böse auf und es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange es noch dauern wird und wie weit ich noch kommen mag ohne vom Regen vollends verschlungen zu werden.

Noch verspüre ich die absolute Ruhe vor dem Sturm. Die kleine Welt um mich herum braucht anscheinend Kraft, um sich mit ihrer bevorstehenden Energie aufzuladen. Fünfeinhalb Knoten Wind von vorn zeigt meine Windanzeige, während ich mit knappen sechs Knoten unterwegs bin. Kein Windhauch, kein Lüftchen weht. Doch weit vor mir sehe verschwommene Segel, deren Rümpfe gekrängt im Wasser liegen. Dort vorne ist definitiv Wind.

Da vorne liegen nun auch jene Wolken, die sich bis eben nur hinter und über mir befanden. Ihr dunkles Grau breitet sich mehr und mehr aus. Ich spüre den Wind. Perfekt zum Segeln. Doch entscheide ich mich aufgrund der tiefen Finsterheit über mir dagegen meine Segel zu setzen.

Es dauert nicht lange und die ersten zarten Tropfen benetzen mein Boot. Schnell ziehe ich mir mein Ölzeug über. Noch ahne ich nichts Schlimmes und denke wohl ein wenig naiv, dass der Schauer sich alsbald wieder verziehen wird. Doch das Dunkel will nicht enden. Der Regen peitscht mir derweil kräftig ins Gesicht. Meine Brille habe ich längst zur Seite gelegt. Ohne sie sehe ich mehr. Ein Handtuch für Hände und Gesicht liegt jetzt unter der Sprayhood bereit. Triefend nass stehe ich im Cockpit und frage mich zum wiederholten Male, ob und warum das hier wirklich sein muss. Doch es hat seinen Wert, denn ich habe etwas zu erledigen. Für mich persönlich. Für meinen inneren Frieden.

Vor mir liegt ein kleines Stück Himmel. Ein Lichtblick. Ein Hoffnungsschimmer. Genau der Funke, der mich antreibt.

Ich möchte die Außenförde erreichen. Vielleicht in Langballigau einlaufen. Wenn es gut läuft vielleicht sogar in Høruphav oder in Wackerballig. Vielleicht habe ich Glück und hinter der Schwiegermutter verzieht sich das Grau. Löst sich auf und lässt noch zwei Stunden auf dem Wasser zu, bevor der nächste Wolkenbruch mit seiner Dunkelheit in den Abend und die Nacht übergeht.

Doch statt sich zu verflüchtigen, verdichtet sich der Himmel mehr und mehr. Der Regen holt nur Luft, um in kurzer Schlagdistanz wieder und wieder auf die gesamte nördliche Innenförde zu preschen. Mit feuchten Fingern checke ich alle paar Minuten die WarnWetterApp und jedes mal zeigt sie neue Regenfelder auf dem Radar.

Um mich herum beginnt es nun zu grummeln. Was vor zwei Stunden in dieser ausgeprägten Form noch nicht angesagt war, kommt jetzt eiskalt über mich. Grelle Blitze zucken durch die graue Wolkendecke. Die Regentropfen prasseln auf mich herab und ihr tosender Lärm übertönt den dumpfen Knall des Donners. Über mir bricht die Welt zusammen und ich befinde mich mitten in einer jener Zellen, denen man auf dem Wasser nicht unbedingt begegnen möchte.

Ich sehe nichts mehr. Keine Boote, keine Tonnen und schon gar kein Land. Nur das helle Licht der schnell vorbei zuckenden Blitze durchdringt das Einheitsgrau. Vor ein paar Jahren, wie ich ohne jegliche Erfahrung im Heimathafen auf meinem damals neu erworbenen Boot ein ähnliches Gewitter über Nacht erlebte, hatte ich, warm und trocken in der Koje liegend, den aberwitzigen Gedanken Gewitter an Bord hätte etwas romantisches. Hier draußen jedenfalls fehlt mir gerade jeglicher Gedanke an auch nur den kleinsten Funken Romantik.

Ich will nicht mehr. Vor mir liegt Marina Minde. Ich werfe alle Gedanken an die Außenförde und ihre Häfen über Bord und bereite mein Schiff zum Anlegen vor. Die Fender müssen an die Reling, die Vorleinen entsprechend bereit liegen, damit eventuelle Helfer am Steg sie einfach greifen können und die langen Achterleinen für Gasthäfen müssen im Cockpit ordentlich aufgeschossen sein, um sie beim Anlegen aus der Hand laufen lassen zu können.

Hinter mir bricht jetzt die Wolkendecke ein klein wenig auf und die Sonne lässt das Licht in den noch immer dicken und schweren Tropfen vor mir brechen. Ein schillernder Regenbogen liegt über der Marina und seine äußeren Enden ragen bis ins Wasser zum Rumpf meines Bootes. Was für ein Wahnsinn. Was für eine wunderschöne Belohnung für dieses nasse Schauspiel. Ich stehe einfach nur in meinem Cockpit und staune.

Noch bin ich nicht im Hafen angekommen und um mich herum donnert es noch immer. Doch wird es langsam heller und ich sehe keine Blitze mehr am Himmel vorbei huschen. Weiter möchte ich heute dennoch nicht. Meine Öljacke ist pitschnass, wenngleich sie meine Kleidung darunter komplett trocken gehalten hat. Doch bin ich froh, wenn ich die Regenmontur gleich ablegen und mich einfach auf die Koje werfen kann.

Ich habe Glück und finde direkt in der Hafeneinfahrt einen Platz zum längsseits Anlegen. Normalerweise suche ich immer eine passende Box in den hinteren Ecken eines Hafens, einfach aus dem Grund, weil ich es seemännisch gesehen nicht gut finde, wenn kleine Boote größeren den Platz streitig machen. Doch heute denke ich anders. Ich bin alleine unterwegs und bei dem Regen wird keiner auf dem Steg stehen, um mir Hilfe anzubieten. Mir ist das Risiko zu hoch, auf den nassen, hölzernen Schwimmstegen beim an Land springen auszurutschen, weshalb ich heute direkt den erst besten Platz für mich beanspruche.

Ich bin kaum fest, da strahlt die Sonne vom Himmel. Es ist verrückt. Eineinhalb Stunden bin ich durch die ganze sich wieder und wieder zubrauende Scheiße gefahren und jetzt, wo ich fest bin, kommt die Sonne hervor und lacht von oben auf mich herab.

Auch ich muss jetzt innerlich lächeln, denn ich habe es geschafft. Nicht nur jetzt und heute. Nicht nur durch dieses naturgemachte Unwetter gefahren zu sein, um an Ende bei Sonnenschein heraus zu kommen. Nein. Ich habe viel mehr geschafft. Für mich und meinen Selbstwert und die Erkenntnis darüber, was dieser heutige kurze Törn, übertragen auf mein Leben bedeutet, lässt mich gerade unheimlich wachsen.

Es müssen nicht immer die großen Sprünge sein, die riesigen und mit Erfolg gekrönten Erlebnisse, die uns zu dem Menschen machen, der wir sind. Es braucht keine überzogenen Heldengeschichten oder glorreiche Taten, um irgendwem irgendetwas zu beweisen. Es braucht keine Vergleiche oder Konkurrenz. Was das Leben wirklich braucht ist die Akzeptanz dessen, was vor uns liegt. Das Annehmen der Möglichkeiten, die uns gegeben sind.

Es sind die kleinen Schritte, die jeder Einzelne in seinem Leben bewältigt. Die überstandenen Stürme, die tiefen Täler und die dunklen Tage. Es ist die Kraft, das eigene Leben so anzunehmen, wie es vor uns liegt. Und es ist der Weg heraus aus der Abhängigkeit der Vergangenheit und hinein das eigene Licht.

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