23. Dezember 2022
Store okseø

Ich muss raus. Ich muss einfach dringend auf mein Schiff und aufs Wasser, um meinen Kopf mal wieder frei zu bekommen. Meine Gemütsverfassung durchfährt in letzter Zeit in Rekordgeschwindigkeit diverse Höhen und Tiefen, denn eine Selbsterkenntnis jagt die nächste und ich komme kaum dazu, wirklich in Ruhe reflektieren zu können. Doch ich weiß, wenn ich erstmal mit meinem Boot da draußen bin, dann rüttelt sich vieles wieder zurecht und ich werde wieder viel klarer sein in dem, was ich will.

Findus ist vorbereitet. Es ist wenig Wind heute, doch die Sonne scheint und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Kurz bevor ich ablegen möchte, bemerke ich jedoch ungewöhnlich viele fremde Menschen auf dem Nachbarsteg und halte kurz inne. Irgendetwas ist dort nicht in Ordnung und es dauert nur kurz, bis ich realisiere, was los da ist. Ein Stegnachbar ist verstorben und wird von Männern in schwarzen Anzügen auf einer Bahre vom Steg geschoben. Mir stockt der Atem. Ich kenne ihn. Nur oberflächlich, doch das reicht, um mich für den Moment aus der Fassung zu bringen. Vor sechs Jahren war er mal bei mir an Bord, um nach meinem alten Motor zu sehen. Ich erinnere mich genau. Ein anderer wollte später mit ihm über etwas diskutieren, doch er blieb ganz ruhig, schlenderte langsam vor sich hin, hielt lächelnd sein Brötchen in die Höhe und sagte genüsslich: „Ich esse jetzt erstmal ein Fischbrötchen.“ Bei dem Gedanken muss jetzt lächeln, während ich merke, dass unwillkürlich und unerwartet Tränen in meine Augen schießen. Ich kannte ihn nicht wirklich und nun ist er seine letzte Reise angetreten. Ein seltsames Gefühl. Auf das es dort, wo er jetzt ist, viele leckere Fischbrötchen geben mag. Mach’s gut Stegnachbar.

Ich verlasse nun zügig den Hafen, um meine Zeit zu nutzen. Wie ich jetzt wieder gesehen habe, ist sie so verdammt kostbar. Der Wind weht mäßig. Ich setze die Segel und lasse mich treiben. Findus kommt heute nur langsam voran. Mit Glück erreiche ich um zwei Knoten an Geschwindigkeit, überwiegend liege ich jedoch weit darunter und pendel irgendwo um nur einen Knoten herum vor mich hin. Findus möchte heute nicht. Das Ruder ganz auf Anschlag, dreht mir der Bug wieder und wieder weg und ich bekomme mein Boot einfach nicht durch den wenigen Wind gedreht. Ich rudere dabei mit der Pinne, um wenigstens so zu tun, als würde ich den Kurs einigermaßen halten. Vergeblich.

Meine Idee für heute wäre die Außenförde gewesen. Evtl. eine Nacht in Langballigau liegen und morgen zurück segeln. Doch die Wetteraussichten sind alles andere als vielversprechend. Was heute an Wind zu wenig ist, kommt mir morgen zu viel. Laut Vorhersage soll es regnen. Vielleicht sogar schneien. Eventuelle Graupel von achtern mit bis zu 20 vorhergesagten Knoten Wind. Nein. Darauf habe ich nun wirklich keine Lust. Morgen habe ich Zeitdruck und könnte keinen Schauer abwarten. Ich muss zeitig zu Hause sein. Es ist schließlich Weihnachten und ich habe meine Verpflichtungen.

Man mag es angesichts des eigentlich viel zu warmen Wetters kaum glauben, doch morgen ist tatsächlich Heilig Abend. Während viele Menschen sich auf die kommenden Tage freuen, kann ich seit meiner Kindheit nicht wirklich etwas mit diesem Fest anfangen. Es erscheint mir so aufgesetzt, so unecht, so falsch. Die Rahmenbedingungen stimmen einfach schon lange nicht mehr und nicht nur meine persönlichen Wünsche, auch die eigentlichen Werte dieser Tage kollidieren einmal mehr mit den mir gegebenen Möglichkeiten und auch mit meinem Muttersein. Ich fühle mich überfordert und würde dem Ganzen jetzt gern entfliehen und nur für mich sein. Mein eigenes Ding machen. Abhauen. Segeln. Sein. Doch als Mutter geht das mal wieder nicht. Wie so vieles von dem ich träume.

Ich lehne mich zurück, verbanne für den Moment alles was mich traurig stimmt und genieße stattdessen das Hier und Jetzt. Was für ein wahnsinns Wetter. Was für ein strahlend blauer Himmel. Was für eine herrliche Stille. Die Sonne scheint angehmen auf mich herab und ich lasse all die Gedanken an ein „ich muss“ oder „ich sollte“ schweifen. Ich möchte für mich sein. Ganz nah bei mir selbst. Ich bin. Hier und Jetzt. Einfach ich.

Der Wind hat derweil nun überhaupt keine Lust mehr und so ich ändere spontan meinen Plan. Mit der Außenförde wird das heute so ohnehin nichts, zurück möchte ich aber noch nicht und einfach so planlos auf dem Wasser treiben, bringt mir aktuell auch keine Erfüllung. Ein Gedanke schießt durch meinen Kopf. Wir haben heute einen leicht erhöhten Wasserstand, bei dem ich es wagen kann, den Anleger der großen Ochseninsel anzulaufen. Eine brillante Idee. Ich starte also den Motor und berge die Segel.

Kurs store okseø. Wie vermutet ist keiner da und der kleine Badesteg ist frei. Langsam fahre ich dichter. Ich war schon einmal bei ein wenig mehr Wasser hier seit die alten Steganlagen abgebaut wurden. Ich weiß also, dass es auch heute passt und doch ist es ein komisches Gefühl. Ich sehe den Grund. Das klare Wasser täusch jedoch und ich habe Mühe die Tiefe realistisch einzuschätzen. Ich verlasse mich auf mein Echolot. Ein Meter. Ein halber Meter. Vierzig Zentimeter, dreißig Zentimeter. Ich gehe nach vorne auf den Bug und werfe die Leine um den Festmacher am Steg. Fest. Findus‘ Schnauze stößt kaum merklichan das hölzerne Stegende und ich binde schnell eine Fender zwischen Holz und Bug. Zwanzig Zentimeter habe ich jetzt noch unter mir. Genau die Zwanzig Zentimeter also, die das Wasser heute über normal ist.

Allein. Wahnsinn. Ich bin vollkommen allein auf dieser kleinen Insel. Was für ein Traum. Was für ein wunderbares Gefühl. Traum und Wirklichkeit vermischen sich und ich vergesse alles um mich herum. Gibt es doch oft einsame Momente, in denen ich gern mit dem einen oder anderen Menschen teilen möchte, so verspüre ich im Augenblick nur das pure Glück des Alleinseins. So wunderbar und kostbar.

Ich lasse mein Boot zurück und mache mich auf, die Insel nach über vier Jahren erneut zu erforschen. Saftiges Grün, feuchte Wiesen, modrige Blätter und dazu der Geruch von kühler Frische. Stille. Nur das Geschrei irgendwecher Vögel ist zu hören. Und wieder denke ich: Wahnsinn. Einfach nur schön. Wie ein kleines Kind folge ich nun dem Trampelpfad hinter den eigens für Naturliebhaber errichteten Shelter. Vorbei an den hohen Wiesen, auf denen damals Ochsen, die dieser dänischen Insel in der Flensburger Förde ihren Namen gaben, grasten und bis hinauf auf die Klippe, von der aus die gesamte Innenförde zu überblicken ist.

Ich vergesse alles, was mich im Alltag von mir selbst fern hält. Kein Gedanke an die kommenden Tage, kein hadern, kein grübeln und auch keine drängenden Wünsche. Ich blühe auf. Ich atme. Bin zufrieden mit mir und der Welt. Hier bin ich einfach nur und mehr möchte ich auch gerade überhaupt gar nicht. Ich genieße das Alleinsein und bin glücklich.

Zusammenschnitt „Mit SY Findus bei der großen Ochseninsel

Diese Möglichkeit, für kurze Momente alles von mir werfen zu können was mich am eigenen Sein hindert, ist unendlich kostbar und leider auch viel zu selten. Das Leben ist oft so vollgestopft mit allem Möglichen, was nicht von innen kommt und stetig von außen auf einen wirkt. Die Maschinerie läuft und versucht ein Konstrukt namens Gesellschaft zusammen zu halten, was mit Individualität und wahrer Liebe in meinen Augen nur wenig zu tun hat. Eine Gesellschaft, in der immer noch nur die erbrachte Leistung zählt, Nächstenliebe moralisch beinahe fast erzwungen wird und ein Höher, Schneller, Weiter noch immer den Status der Zeit bestimmt. Dem sozialen Wesen Mensch sichert diese Art des Zusammenlebens im Großen und Ganzen seine Existenz, doch nur zu gern möchte ich ausbrechen aus diesem System und mein Leben so gestalten, wie mein wahres Selbst es für mein persönliches Wohlbefinden braucht. Am Ende siegt bislang jedoch immer die Vernunft und füge mich dem scheinbar Unvermeidlichen. Hier und Jetzt aber, allein auf einer einsamen kleinen Insel, genieße ich für ein paar Stunden die Abgeschiedenheit und gebe mich voll und ganz meiner Illusion hin.

Irgendwann wird es dann aber doch wieder Zeit. Wind ist keiner da und er kommt vorerst auch nicht mehr. Doch die Sonne neigt sich bereits und ich verabschiede mich von der Insel. Unter Motor geht zurück in meine Wirklichkeit. Auch auf der Förde ist nichts mehr los und so drehe ich heute meine Musik voll auf. Ein Kontrastprogramm zur Stille, welches mich zurück bringt in ein oft nur oberflächlich gestaltetes Sein. Dänische Schlager, Heavy Metal und 80iger Pop wechseln sich dabei ab. An Bord geht all das, was in meiner Wohnung undenkbar ist. Ein weiterer Grund, warum Findus mein wahres zu Hause ist. Gefühle sind erlaubt und wie ich bin, kann ich hier auch sein. Hier spüre ich mein Leben in sämtliche Richtungen und hier bin ich richtig.

Zurück im Hafen kommen meine Kinder zum Abendessen an Bord. So stelle ich mir Weihnachten vor. Zusammen sitzen. Gemütlich. Heimelig. Und mit viel Liebe im Herzen.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Abonniere meinen Blog

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten.

Wir halten deine Daten privat und teilen sie nur mit Dritten, die diesen Dienst ermöglichen.

Archiv