10. Juli 2021
Verlorener Mut

Ich muss raus aus diesem Hafen. Ertrage das Grau hier nicht. Die Mauern. Die emotionslose Menschenleere. Normalerweise würde ich mir heute keinen Druck machen und einen Hafentag einlegen. Der Wind pfeift bereits früh am Morgen und in der Vorhersage des DMI sind heute über den ganzen Tag Böen um die 6 Beaufort angesagt.

Ist das zu viel? Manchmal schon. Zumindest ist es mir heute zu viel. Bei 5-6 will ich eigentlich nicht kreuzen. Andererseits habe ich den extremen Drang hier weg zu kommen.

Wohl ist mir dabei nicht wirklich. Bereits beim Reffen im Hafen spüre ich meine Kraftlosigkeit. Jeder Handgriff ist zu viel und erschöpft mich maßlos. Die privaten Nachrichten der letzten Tage zerren an mir. Zusätzlich suchen Unterleibskrämpfe mich heim und ich will mich eigentlich nur in meiner Koje verkriechen. Doch hier werde ich erdrückt. Ich muss einfach los.

Kaum aus dem Hafen setze ich das Großsegel. Zumindest versuche ich es. Es will nicht. Beim Reffen im Hafen mache ich den Fehler und vertausche den zweiten Dogbone mit dem ersten. Das Segel schlägt kräftig. Ich muss zum Mast und den Bone für die erste Reihe befestigen. Dabei soll Heinrich das Steuern übernehmen, was er normal auch zuverlässig tut. Doch ich habe nicht genug Gas gegeben. Das Boot steht mit schlagendem Segel auf der Stelle und dreht sich im Kreis, während es von den Wellen hin und her geschubst wird.

Zurück im Cockpit will ich das verdammte Segel endlich hochziehen. Doch es geht immer noch nicht. Auch das vorderste Reffbändsel habe ich versehentlich in die zweite Reffreihe gesetzt. Wieder zum Mast.

Endlich ist das Segel oben. Ich bin vollkommen fertig und sitze zusammengesackt im Cockpit. Vor mir liegt die Ny Lillebæltsbro. Der Wind kommt aus west. Das bedeutet kreuzen, sobald ich durch bin. Ich merke, dass ich dem gerade nicht gewachsen bin. Ich blicke mich um. Alle Segler um mich herum haben die Segel oben. Keiner ist mit Motor unterwegs. Ich überlege kurz.

Nein. Ich muss niemandem etwas beweisen. Was nicht geht, geht nunmal einfach nicht. Ich fahre in den Wind und nehme nach nur einer Meile das mühsam gereffte Großsegel wieder runter.

Unter Motor und einem Fetzen Genua geht es Halbwind auf die Brücke zu. Ihre massive Bauart fasziniert mich. Ich kenne mich mit Statik nicht aus, doch es ist Wahnsinn, was hier für ein Gewicht über mir thront.

Lille Bjørn ist mutiger wie ich. Findus jüngeres Schwesterschiff zeigt, wie easy es eigentlich ist heute zu segeln. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich neidisch und kann nicht leugnen, dass es mir unendlich nah geht. Ich zweifle an mir und die Last der letzten Tage tut ihr übriges. Unwillkürlich laufen Tränen über meine Wangen.

Doch ich bin auch stolz auf meinen ältesten Sohn. Er hat seine Polaris Drabant 26 seglerisch voll im Griff und weiß, was er tut. Aus beiden ist eine Einheit geworden und sie kreuzen ihren Weg Richtung „den gammle Lillebæltsbro“.

Ich hingegen ziehe den Fetzen Genua wieder rein. Es ist schlichtweg Quatsch, mit Motor und Wind direkt von vorn zu kreuzen.

Auch die alte Lillebæltbrücke steht massiv im Wasser. Vielleicht fasziniert mich das Massive im Moment so, weil die Welt um mich herum eher einem labilen Kartenhaus gleicht und zu vieles gerade in sich zusammen fällt.

Den kleinen Belt runter geht es zwischen Fyn und Fænø weiter nach Middelfart. Landschaftlich sieht es hier schön aus, keine Frage. Doch meine Sehnsucht und heutige Stimmung trüben dieses Bild. Ich halte in Bildern fest, was mein Herz heute nicht zulassen kann.

Bewachsene Klippe
Einsames Haus
Fähranleger
Vereinshaus
Schraube
Stille Bank
Fænø Sund
Weg zur Marina
Badesteg
Grünes Licht
Etwas Farbe
Sundowner
Good night

1 Kommentar

  1. Liebe Marion, deine Zeilen sagen heute viel…., aus emotionaler Sicht ist es wohl wirklich nicht dein Tag. Ich wünsche dir, dass die Sinuskurve schnell wieder in die andere Richtung geht.
    Trotzdem beschreibst du alles sehr schön, auch dein Unwohlsein. Es geht einem halt nicht immer gut. Das zu dokumentieren ist eben auch legitim.
    Auf deine Fotos freue ich mich immer.
    In der Hoffnung, dass es dir bald besser geht,
    einen lieben Gruß
    Katrin

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