13. Juli 2022
Ziel Südsee

Es hat einfach alles keinen Sinn. Der Wind nimmt die folgenden Tage wieder stark zu und ich bin total unsicher und traue mir aktuell nichts wirklich zu. Ich bin schlicht zu durcheinander und stehe viel zu weit neben mir. Ich kann die Situation für mich einfach nicht richtig einschätzen und fühle mich mit der alleingen Verantwortung an Bord im Augenblick vollkommen überfordert. 

Nebenbei saugt meine dunkle Wolke unermüdlich an meiner spärlichen Energie, deren Reserven ich eigentlich gehofft hatte, während meiner Zeit an Bord wieder richtig auffüllen zu können. Das mir Wind und Wetter und meine allgemeine Gefühlslage derart einen Strich durch die Rechnung ziehen könnten, daran hatte ich im Traum nicht gedacht und bin voller Hoffnung und Tatendrang vor elf Tagen aufgebrochen. Doch irgendwie soll es alles einfach nicht sein. Träume bleiben wohl Träume und die Realität bekomme ich aktuell nicht wirklich gestemmt. Meine Gedanken sind vollkommen blockiert und kreisen um Themen, die hier und jetzt einfach nicht relevant sind.

Wo soll ich bloß die nächsten Tage hin? Was kann ich überhaupt noch schaffen? Wo möchte ich abwettern? Und wo auf keinem Fall stehen müssen? Fragen über Fragen und am Ende meiner kreisenden Gedanken spüre ich einen immensen Zeitdruck. Immer im Hinterkopf dabei auch die Gedanken an den Rückweg, der bei der aktuellen Großwetterlage zu einer echten Zerreißprobe werden könnte. Auch wenn weitere dreieinhalb Wochen Urlaub jetzt lang erscheinen mögen, so vergeht die Zeit doch wie im Fluge. Die letzten elf Tage haben mir schließlich gezeigt, was es bedeutet, irgendwo eingeweht zu sein und einfach nicht weg zu kommen. Wieviel Risiko kann ich in Angesicht des bevorstehenden Windes also eingehen? Ich habe keinen zeitlichen Spielraum und muss schließlich pünktlich zurück sein, um mich in absehbarer Zeit an Land wieder in meinen Alltag und somit außerhalb meines wahren Selbst einzufinden.

Ich habe den Kurs nach Süden gesetzt. Süden. Zurück. Zurück in die Richtung,  aus der ich doch gerade erst gekommen bin, um mich selbst ein Stück weit zu finden und mir nah sein zu können. Um endlich für kurze Zeit wieder bei mir selbst ankommen zu können. Und nun das. Nach nur eineinhalb Wochen Urlaub kehre ich um. Das kann doch eigentlich nicht wirklich wahr sein. Ich will nach Norden verdammt. Will das Offene. Will das Weite und Unbegrenzte. Will dahin, wo mein Blick nicht gestoppt wird durch Land und Leute. Und ich will mich. Einfach nur mich. Sind meine Ansprüche etwa tatsächlich so hoch? Es geht nicht um mögliche Ziele in Skagen, dem Skagerak, den Westschären oder Göteborg. Natürlich möchte ich all das sehen und (er)leben, doch noch viel mehr möchte ich endlich einen Teil meines Herzens heilen und ganz werden. Ich möchte doch nur einen winzigen Teil dessen, was ich Leben nenne. Mein Leben und das damit einhergehende Erleben. Ich möchte leben, nicht nur existieren.

„Du kannst nicht vermissen, was Du niemals hattest“, das hat mal jemand zu mir gesagt und ich habe ewig darüber nachgedacht und tue es auch heute noch. Ich habe einen Hauch meiner inneren Freiheit entdeckt, habe sie gespürt und verinnerlicht, in dem Moment, wo ich mit Findus das erste Mal alleine auf der Flensburger Förde unterwegs war. Seitdem habe ich eine Vorstellung dessen, was dort draußen noch alles auf mich wartet und seitdem frisst meine unerfüllte Sehnsucht nach genau dieser inneren Freiheit, dem eigentlichen Sein, mich Stück für Stück auf. Ja, ich denke schon, dass man vermissen kann, was man niemals hatte, solange man Kenntnis davon gewonnen hat, dass es existiert und die eigene Vorstellungskraft groß und intensiv genug ist, sich ein annähernd reales Bild zu verschaffen. So ist es auch mit dem Bild meiner möglichen und persönlichen Freiheit. Ich vermisse sie und sehne mich ihr.

Ich wollte früh schlafen gehen gestern, war vom Vortag und seinen für mich emotionalen Ereignissen noch völlig geschafft, doch meine Tochter war lange wach. In Kerteminde gab es endlich das von ihr heißersehnte Wlan und endlich war auch sie mal ein paar Stunden zufrieden. Sie befand sich vorübergehend in ihrem persönlichen Paradies. Im Schatten auf einer Bank an der Promenade, hatte ihr Handy den gewünschten Empfang und den musste sie nutzen so lang es nur ging. Entsprechend spät kam sie an Bord und machte mich, nachdem ich nach einer halben Ewigkeit endlich zur Ruhe gefunden hatte, fröhlich und umbeabsichtig mit Gerumpel und Gepolter wieder wach, so dass ich erneut damit beginnen musste, mich in den Schlaf zu wühlen. Die Nacht war entsprechend unruhig, denn meine Gedanken sind resistent und geben selbst nachts keine Ruhe. Ständig war ich wach, habe mich unruhig von einer Seite auf die andere gedreht und dabei versucht unnötiges, wirres und mich auffressendes Zeug aus meinem Kopf zu bekommen. Vergebens.

Es ist moch früh am morgen, der Autopilot ist eingeschaltet und ich sitze an Deck. Alles ist noch feucht vom Morgentau und die Nässe glitzert in der noch niedrig stehenden Sonne. Mal wieder gibt es keinen Wind und heute liegen über 50 Meilen vor mir. Zeit zu dümpeln bleibt da nicht viel und so muss die Maschine erst einmal wieder ran. Habe ich überhaupt ein Segelboot?, frage ich mich manchmal. Eines, auf dem ich nur das Rauschen der vorbei ziehenden See höre und den warmen Sommerwind auf der Haut spüre? Ewig läuft der Motor. Weil der nächste Hafen angelaufen werden muss. Weil das Wetterfenster es erfordert. Weil ich ankommen muss. Weil ich permanent unter Druck stehe und weil einfach alles muss passen. Momente der Entspannung, des Ankommens im Urlaub, geschweigedenn bei mir selbst, verspüre ich keine. Alles ist mit Stress und Druck behaftet und mein Überlauf ist derart voll.

Tränen rinnen mir unwillkürlich und unaufhaltsam aus den Augen. Seit ich die Hafenausfahrt passiert habe und der Kurs in Richtung süden zeigt, kann ich sie einfach nicht mehr zurück halten. Ich heule. Ich heule wie ein kleines Kind und keiner weiß es. Keiner kann verstehen, worum es mir wirklich geht. Keiner kennt meine Gedanken, meine Gefühle, meine Sehnsucht. Kaum einer weiß von meinen Träumen, meinen Hoffnungen und meinen Wünschen. Ich kann sie einfach nicht teilen. Nicht die schönen Augenblicke auf See, nicht die Hafentage und auch nicht die traurigen Momente. Ich fühle mich gerade einfach nur unendlich allein.

Doch auch hier an Bord kann ich meinen Tränen nicht wirklich freien Lauf lassen und muss stattdessen, wie sonst auch immer, das Meiste wieder in mich hineinfressen. Ich bin allein und doch bin ich es nicht. Ich muss irgendwie auch hier die Contenance wahren und weiterhin stark sein. Irgendwie. Woher ich die Kraft nehmen soll, weiß ich allerdings noch nicht.

Die See liegt still vor mir. Wir haben immer noch Flaute. Wie sollte es auch anders sein, der Sturm kommt ja erst in zwei Tagen und ein Dazwischen scheint irgendwo verloren gegangen zu sein. Der Storebælt liegt glatt da und immer wieder Blicke ich dahin, wo ich eigentlich sein möchte, wo ich hin möchte. Wirklich offen ist es auch hier oben noch nicht, doch ich habe ein kleines Boot und die Kombination aus niedrigem Freibord und Erdkrümmung suggeriert mir die unendliche Weite. Ich sehe kein Land, auch nicht dort, wo gewiss welches ist. Ich bin froh, dass ich es nicht sehe, denn so kann ich mich der Illusion hingegen, dass ich mich in meinem geliebten Nichts befinde. Ich liebe diesen Anblick einfach und zum Glück bin ich heute wieder in der Lage dies auch zu fühlen. Auch wenn es traurige Gefühle sind, so fühle ich wenigstens und bin nicht vollkommen leer.

Die Vestbroen im Storebælt hatte ich bislang nur von Süd nach Nord passiert, um schnell hoch zu kommen, doch heute ist es umgekehrt und fühlt sich gerade irgendwie nicht ganz richtig an. Der Gedanke war ursprünglich ein gänzlich anderer: Die dänische Ostküste hoch segeln, von Skagen rüber nach Tjörn und dort eine Idee der Schönheit des Inselarchpels in Schwedens Westen zu bekommen. Doch nun bin ich dabei, Fyn im Uhrzeigersinn zu umrunden. Nichts mit Norden. Nichts mit Schweden. Keine Schären, keine Steine, keine Erfolge. Wieder laufen mir Tränen warm übers Gesicht und ich fühle mich schlecht bei dem Gedanken, nichts erreicht zu haben.

Ob Fyn Rundt das einzige bleibt, was ich in diesen Sommer erreiche, weiß ich heute noch nicht, doch ich merke, dass meine Motivation, zum Großteil sicherlich meiner Unsicherheit und Ängste geschuldet, nicht besonders groß ist und darüber ärgere ich mich.

Soll ich versuchen ins Smålandsfarvandet und Richtung Guldborgsund zu kommen? Die eine oder andere Insel würde mich schon reizen und auf Falster könnte ich einen Bekannten treffen. Doch wenn der kommende Starkwind auch nach den vorhergesagten zehn Tagen weiter anhält, dann komme ich von dort such nicht mehr weg. Schweren Herzens verwerfe ich auch diese Idee wieder. Keine ruhigen Inseln, keine neuen Häfen, kein Treffen mit Nefertiti.

Der Wind nimmt jetzt etwas zu. DMI sollte also recht behalten, denn genau so war es für diese Gegend hier angesagt. Vielleicht sollte ich jetzt die Segel setzen? Doch wieder werde ich unsicher. Was, wenn es mir doch zu doll wird? Meine Gefühle fahren Achterbahn und ich weiß nicht mehr genau, was jetzt eigentlich richtig oder falsch ist. Ich bin einfach völlig durcheinander. Einerseits möchte ich segeln, andererseits habe ich Angst. Immer wieder diese bescheuerte Angst.

Ich entscheide mich vorerst gegen das Segeln, denn gleich werde ich ins Fahrwasser abzweigen müssen und anschließend auf die Fähren im Svendborgsund treffen. Hier strömt es ordentlich und wir haben dann den Wind gegen den Strom stehen, was bedeutet, dass die Welle sich entsprechend aufbaut. Es macht einfach keinen Sinn, bei dieser gesamten Kombination die Segel zu setzen und dennoch hardere ich mit mir und zweifle an meiner Entscheidung.

Ich blicke mich ein letztes Mal um. Goodbye Norden. Mach’s gut Weite. Lebwohl du offene Schönheit. Ich werde diesen Anblick vermissen und von jetzt an wieder in den Traummodus schalten und mich so meiner schlichten Illusion von innerer Freiheit hingeben.

Angekommen in der dänischen Südsee schaffe ich es jetzt endlich zu segeln. Schönwettersegeln. Keine Welle mehr, ein lauer Sommerwind und jetzt am Nachmittag auch nur noch wenige Boote, die vereinzelt meinen Weg kreuzen. So mag ich es. Warm, gemütlich, entspannt. Das Ziel ist jetzt nicht mehr weit und nun habe ich endlich ein wenig Zeit und Muße mich ansatzweise auf das einzulassen, was ich die letzten Tage nicht konnte.

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